Schattennacht
aufgesucht wurde und versuchte, ihnen nach bestem Wissen und Gewissen Gerechtigkeit zu verschaffen.
Auf die Nachricht, dass Bruder Constantine doch nicht Selbstmord begangen hatte, reagierten sie mit Freude und Erleichterung. Die gesichtslose Gestalt des Todes auf dem Glockenturm
fanden sie weniger furchteinflößend als faszinierend. Sie diskutierten darüber, inwiefern zur Bekämpfung der gewalttätigen Erscheinungen herkömmlicher Exorzismus infrage kam, und waren sich einig, dass dieser eher bei dem Phantom auf dem Turm gewirkt hätte als bei einem monströsen Skelett, das einen Geländewagen umwerfen konnte.
Ob Bruder Leopold und Rodion Romanovich mir glaubten, war mir nicht recht klar, aber den beiden schuldete ich bestimmt keine Beweise für meine Ehrlichkeit.
»Ich glaube, Exorzismus hätte in beiden Fällen nicht viel Sinn«, sagte ich zu Leopold. »Was meinen Sie?«
Der Novize senkte den Blick zu dem Ort am Boden, wo sich die Würfel befunden hatten. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.
Romanovich ersparte es seinem Kameraden, die Frage zu beantworten. »Mr. Thomas«, sagte er, »ich bin durchaus bereit zu glauben, dass Sie an der Schwelle zwischen dieser Welt und der nächsten leben und dadurch sehen können, was wir nicht sehen. Aber nun haben Sie offenbar Erscheinungen gesehen, die Ihnen bisher unbekannt waren.«
»Waren die Ihnen denn ebenfalls unbekannt?«, fragte ich.
»Ich bin nur ein Bibliothekar, Mr. Thomas, der keinen sechsten Sinn besitzt. Aber ich bin, ob Sie mir trauen oder nicht, ein Mann des Glaubens, und nun, da ich Ihre Geschichte gehört habe, mache ich mir genauso große Sorgen um die Kinder wie Sie. Wie viel Zeit bleibt uns noch? Was immer geschehen wird, wann wird es so weit sein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Heute Morgen habe ich nur sieben Bodachs gesehen. Wenn die Krise unmittelbar bevorstehen würde, wären es mehr.«
»Das war heute Morgen. Meinen Sie nicht, Sie sollten sich jetzt noch einmal umschauen? Es ist schon nach halb zwei!«
»Nehmt alle Werkzeuge und die … Waffen mit«, ordnete Abt Bernard an.
Der Schnee auf meinen Stiefeln war bereits geschmolzen. Ich wischte die Sohlen auf der Matte ab, die an der Tür zum Kellerflur lag. Die anderen, die sich mit winterlichen Verhältnissen auskannten und daher besser vorgesorgt hatten als ich, streiften ihre Gummistiefel mit Reißverschluss ab und ließen sie zurück.
Da das Mittagessen vorüber war, befanden die meisten Kinder sich in den Reha- und Aufenthaltsräumen. Begleitet vom Abt, einigen Brüdern und Romanovich, machte ich einen Rundgang.
Pechschwarze Schatten, die nicht von dieser Welt stammten, glitten durch die Räume und den Flur, bebend vor Erwartung, wölfisch und gierig. Offensichtlich erregte sie der Anblick so vieler unschuldiger Kinder, die irgendwann vor Schmerz und Angst schreien würden. Ich zählte zweiundsiebzig Bodachs und wusste, dass weitere durch die Flure im ersten Stock schlichen.
»Bald«, sagte ich zum Abt. »Es wird jetzt bald geschehen.«
41
Die sechzehn Kriegermönche und der eine zwielichtige Novize beratschlagten, wie man die beiden zur ersten Etage führenden Treppenhäuser befestigen sollte. Auch Schwester Angela war herbeigeeilt, um sich zu erkundigen, inwiefern die Hilfe ihrer Nonnen vonnöten war.
Während ich noch durch den oberen Flur zur nordwestlichen Schwesternstation unterwegs war, sah ich die Mutter Oberin hinter mir herkommen. »Oddie, ich habe gehört, dass auf der Fahrt hierher seltsame Dinge passiert sind«, sagte sie, während wir Seite an Seite weitergingen.
»Ja, Ma’am, und ob. Es ist jetzt zwar nicht genug Zeit, um alles zu erklären, aber wenn Sie das Ihrer Autoversicherung melden, wird die eine Menge Fragen stellen.«
»Sind irgendwelche Bodachs hier?«
Ich blickte links und rechts in die Räume, an denen wir vorbeigingen. »Es wimmelt nur so von ihnen, Ma’am.«
In einigem Abstand folgte uns Rodion Romanovich mit dem autoritären Gehabe jener Bibliothekare, die mit einschüchternd grimmiger Miene über ihre Schätze wachen, so scharf Leise! flüstern, dass das zarte Gewebe des Innenohrs in Gefahr gerät, und Versäumnisgebühren mit der Wildheit eines tollwütigen Frettchens eintreiben.
»Wie kommt es eigentlich, dass Mr. Romanovich jetzt doch mithilft?«, fragte Schwester Angela.
»Er hilft nicht mit, Ma’am.«
»Was tut er dann?«
»Wahrscheinlich schmiedet er finstere Pläne.«
»Soll ich ihn aus dem Verkehr ziehen?«,
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