Schattennacht
ist nur so … ich muss sicher sein, dass ich bezüglich des Namens richtig liege. Außerdem muss ich die Motive dieses Mannes begreifen, was ich noch nicht tue, jedenfalls nicht vollständig. Womöglich ist es gefährlich, ohne ein solches Verständnis mit ihm in Kontakt zu treten.«
Schwester Angela wandte sich an Romanovich. »Sir, wenn Sie Oddie den Namen und die Motive dieses Mannes nennen können, dann werden Sie das doch sicher tun, um die Kinder zu beschützen!«
»Ich würde nicht unbedingt glauben, was er mir erzählt«, wandte ich ein. »Unser Freund mit dem Pelzhut hat seine eigenen Ziele, und ich vermute, er wird sie rücksichtslos durchsetzen.«
»Mr. Romanovich«, sagte die Mutter Oberin in deutlich missbilligendem Ton, »Sie haben sich unserer Gemeinschaft gegenüber als einfacher Bibliothekar dargestellt, der seinen Glauben vertiefen wollte.«
»Dass es so einfach ist, habe ich nie behauptet«, erwiderte der Russe. »Ein Mann des Glaubens bin ich aber durchaus. Und wessen Glaube ist so gefestigt, dass er nicht weiter vertieft werden müsste?«
Sie starrte ihn einen Moment an, dann wandte sie sich wieder mir zu. »Der ist tatsächlich ein harter Brocken.«
»Richtig, Ma’am.«
»Ich würde ihn ja in den Schnee rausschicken, wenn das nicht so unchristlich wäre – und wenn ich mir vorstellen könnte, dass wir ihn mit Gewalt durch die Tür bekommen.«
»Das glaube ich nicht, Schwester.«
»Ich auch nicht.«
»Wenn Sie ein Kind finden, das vorübergehend tot war, aber sprechen kann«, sagte ich, »dann erfahre ich das, was ich wissen muss, vielleicht auch ohne Mr. Romanovich.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Das wollte ich dir ja sagen, bevor wir angefangen haben, uns über Jacobs Vater zu unterhalten! Bei uns lebt ein Mädchen namens Bertha Bodenblatt …«
»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, fuhr Romanovich dazwischen.
»Bertha«, fuhr Schwester Angela ungerührt fort, »hat sehr viel durchgemacht, eigentlich zu viel – aber sie hat viel Kraft, und sie hat sich in der Sprachtherapie unheimlich Mühe gegeben. Ihre Stimme ist jetzt ganz klar. Vorhin war sie bei der Reha, aber jetzt haben wir sie in ihr Zimmer gebracht. Komm mit!«
45
Während wir durch den Flur gingen, klärte Schwester Angela mich über Bertha auf. Sie war neun Jahre alt und erst seit einem Jahr im Internat. Wahrscheinlich gehörte sie zu der Minderheit, die eines Tages in der Lage sein würde, alleine zu leben.
Auf den beiden Türschildern stand BERTHA und PAULETTE. Bertha wartete alleine auf uns.
Krimskrams, Rüschen und Puppen charakterisierten Paulettes Hälfte des Raums. Dort gab es rosa Kissen und einen kleinen, grün-rosa Frisiertisch.
Im Gegensatz dazu war Berthas Bereich einfach und schlicht gehalten, ganz in Weiß und Blau. Als Schmuck dienten nur Poster mit verschiedenen Hunden an der Wand.
Bei dem Namen »Bodenblatt« hatte ich an eine deutsche oder skandinavische Herkunft gedacht, aber Bertha hatte eine mediterrane Gesichtsfarbe, schwarzes Haar und große dunkle Augen.
Gesehen hatte ich das Mädchen zwar schon, mich jedoch noch nie mit ihm unterhalten. Ich spürte, wie es mir eng in der Brust wurde, und da war mir sofort klar, dass es womöglich schwieriger werden würde als erwartet.
Als wir ins Zimmer kamen, saß Bertha auf einem kleinen Teppich und blätterte in einem Buch mit Hundefotos.
»Liebes«, sagte Schwester Angela, »das ist Mr. Thomas, der Mann, der gerne mit dir sprechen möchte.«
Berthas Lächeln war nicht das Lächeln, an das ich mich von einem anderen Ort und einer anderen Zeit her erinnerte, aber es kam ihm nahe genug. Es war ein gleichermaßen verwundetes und liebenswertes Lächeln.
»Tag, Mr. Thomas.«
Ich hockte mich im Schneidersitz vor dem Mädchen auf den Boden. »Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Bertha.«
Schwester Angela ließ sich auf der Kante von Berthas Bett nieder, während Rodion Romanovich sich zwischen die Rüschen und Puppen von Paulette stellte wie ein Bär im Spielzeugladen.
Bertha trug rote Hosen und einen weißen Pulli, auf den das Bild des Weihnachtsmanns aufgenäht war. Sie hatte feine Gesichtszüge mit einer Stupsnase und einem zarten Kinn. Wie ein Elfchen sah sie aus.
Der linke Mundwinkel war nach unten gezogen, und auch das linke Augenlid hing leicht herab.
Die linke Hand war zu einer Klaue verkrampft. Mit dem dazugehörigen Arm hielt sie das Buch auf ihrem Schoß fest. Viel mehr konnte sie damit offenbar nicht tun. Die Seiten
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