Schattennacht
hinführen mag, letztendlich führt sie zum Tod, zum Ende, das in meinem und in eurem Anfang liegt.
Aus dem linken Ärmel erschien eine weitere bleiche Hand. Sie hielt einen Strick, dessen Ende zu einer Schlinge geknüpft war. Der Geist – falls es einer war – übergab die Schlinge von der linken in die rechte Hand und zog dann einen unglaublich langen Strick aus seiner Kutte.
Als endlich das lose Ende aus dem Ärmel gekommen war, warf er es über die Stange, von der die fünf Glocken in Gang gesetzt wurden, wenn man sie mit einer Handkurbel unten im Turm drehte. Dann schlang er so flüssig einen Galgenknoten, dass die Bewegung weniger an das Geschick eines erfahrenen Henkers als an die Fingerfertigkeit eines professionellen Magiers erinnerte.
Der ganze Vorgang erinnerte mich an Kabuki, jene stark stilisierte japanische Theaterform, über die ich allerhand gelesen habe. Angesichts der surrealen Kulissen, der kühn geschminkten Gesichter, der Perücken, der übertriebenen Emotionen und der melodramatischen Gestik der Schauspieler sollte eine Kabukivorführung eigentlich ebenso lächerlich sein wie eine Wrestling-Show. Auf Leute, die sich auskennen, wirkt sie jedoch auf mysteriöse Weise offenbar so real wie eine über den Daumen gezogene Rasierklinge.
Im Schweigen der Glocken, in dem der Sturm der gespenstischen Darstellung brüllend Applaus zu spenden schien, zeigte
der Tod erneut auf mich. Damit war endgültig klar, dass die Schlinge für meinen Hals gedacht war.
Geister können den Lebenden keinen Schaden zufügen. Dies ist unsere Welt, nicht ihre.
Außerdem ist der Tod keine Gestalt, die kostümiert durch die Welt wandelt, um Seelen einzusammeln.
Diese beiden Aussagen trafen zweifellos zu, was bedeutete, dass der bedrohliche Kuttenträger mir nichts antun konnte.
Weil meine Fantasie so üppig ist wie mein Bankkonto leer, konnte ich mir trotzdem gut vorstellen, wie sich die rauen Fasern des Stricks in meine Kehle schnürten und meinen Adamsapfel zu Mus verwandelten.
Wahrscheinlich ermutigt durch die Tatsache, dass er bereits tot war, trat Bruder Constantine vor. Vielleicht wollte er die Aufmerksamkeit der finsteren Gestalt auf sich lenken, um mir dadurch eine Chance zu verschaffen, zur Treppe zu flüchten.
Der Geist des Mönchs sprang wieder auf die Glocken, konnte jedoch nicht mehr den Zorn aufbringen, der nötig war, um psychokinetische Energie zu erzeugen. Stattdessen schien ihn die Angst um mich zu überwältigen. Er rang die Hände, während sein Mund sich zu einem lautlosen Schrei verzog.
Mein Vertrauen darin, dass kein Geist mir schaden konnte, wurde von Bruder Constantines gegenteiliger Überzeugung erheblich erschüttert.
Obwohl Gevatter Tod eine simplere Gestalt war als das Kaleidoskop aus Knochen, das mich durch den Schneesturm verfolgt hatte, spürte ich, dass die beiden Erscheinungen sich ähnelten. Sie waren so theatralisch, manieriert und reflektiert, wie die auf Erden verweilenden Toten es nie sind. Selbst ein vor Wut tobender Poltergeist plant seine Handlungen nicht so, dass sie die größte Wirkung auf lebende Wesen haben. Er hat auch gar nicht die Absicht, irgendjemandem Angst einzujagen, sondern will
nur seine Frustration, seine Selbstverachtung und seinen Zorn darüber abarbeiten, dass er in einer Art Fegefeuer zwischen zwei Welten gefangen ist.
Die verblüffenden Verwandlungen des knochigen Ungetüms am Fenster hatten einen Anflug von Eitelkeit gehabt: Sieh nur, was für ein Wunder ich bin, steh in Ehrfurcht vor mir und zittere! Das war die Botschaft gewesen, und auch die Gestalt in der Kutte bewegte sich wie ein eitler Tänzer auf der Bühne, ostentativ und in Erwartung von Applaus.
Eitelkeit ist eine rein menschliche Schwäche. Kein Tier ist dazu fähig. Manchmal heißt es, Katzen seien eitel, doch in Wirklichkeit sind sie hochmütig. Sie sind sich einfach ihrer Überlegenheit sicher und sehnen sich nicht nach Bewunderung, wie es eitle Männer und Frauen tun.
Was die hier verweilenden Toten angeht, so mögen sie im Leben zwar eitel gewesen sein. Davon sind sie jedoch befreit worden, sobald sie ihre Sterblichkeit entdeckt haben.
Gevatter Tod winkte mich spöttisch zu sich heran, als hätte ich von seiner furchtbaren Erscheinung so verängstigt sein sollen, dass ich mir die Schlinge selbst um den Hals legte und ihm die Mühe ersparte, mich zu schnappen.
Die Erkenntnis, dass beide Gestalten eine allzu menschliche Eitelkeit besaßen, wie wahrhaft übersinnliche Erscheinungen
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