Schattennacht
auf den Arm. »Oddie, dir ist doch nichts geschehen, oder doch?«
»Tot bin ich noch nicht«, sagte ich. »Aber nach dem Abendessen gibt’s ja auch Kuchen.«
»Kuchen?«
»Tut mir leid. Ich klopfe eben gerne blöde Sprüche.«
»Wer hat versucht, dich umzubringen?«
»Sein Gesicht habe ich nicht gesehen«, berichtete ich. »Er …
trug eine Maske. Und ich bin überzeugt, dass es jemand ist, den ich kenne, kein Fremder.«
Sie richtete den Blick auf die Stelle, an der sich, wie sie von mir wusste, der tote Mönch befand. »Kann Bruder Constantine ihn vielleicht identifizieren?«
»Ich glaube, der hat das Gesicht seines Mörders auch nicht gesehen. Abgesehen davon wären Sie zweifelsohne überrascht, wenn Sie wüssten, wie wenig Hilfe mir die Geister der Toten bieten. Die wollen zwar, dass ich ihnen Gerechtigkeit verschaffe, aber ich glaube, sie müssen sich an irgendeine Vorschrift halten, die besagt, dass sie den Lauf der Welt, in die sie nicht mehr gehören, auch nicht mehr beeinflussen dürfen.«
»Und du hast keinerlei Theorie?«
»Na ja … Man hat mir gesagt, Bruder Constantine hätte unter Schlaflosigkeit gelitten. Deshalb sei er nachts gelegentlich auf den Glockenturm drüben im Kloster gestiegen, um die Sterne zu beobachten.«
»Ja, das hat Abt Bernard mir damals auch erzählt.«
»Ich vermute Folgendes: Als er eines Nachts unterwegs war, hat er etwas gesehen, was er nicht sehen sollte. Etwas, wofür es keinen Zeugen geben durfte.«
Schwester Angela verzog schmerzvoll das Gesicht. »Meinst du etwa …«
»Nein, das nicht. Ich bin jetzt schon sieben Monate hier und weiß, wie anständig und fromm die Brüder sind. Deshalb glaube ich auch nicht, dass Bruder Constantine etwas Anstößiges gesehen hat. Es war wohl eher etwas … Außerordentliches.«
»Das hieße, dass auch Bruder Timothy gestern etwas Außerordentliches gesehen hat, wofür es keinen Zeugen geben durfte?«
»So ist es wohl, fürchte ich.«
Einen Moment lang grübelte sie über meine These nach und
kam zu einem logischen Schluss. »Dann hast du also selbst etwas Außerordentliches gesehen?«
»Ja.«
»Und das wäre … was?«
»Das möchte ich lieber nicht sagen, bis ich genügend Zeit hatte, um zu begreifen , was es war.«
»Aber das, was du da gesehen hast … sollen wir deshalb dafür sorgen, dass alle Türen und Fenster verschlossen sind?«
»Ja, Ma’am. Und es ist einer der Gründe dafür, dass wir nun zusätzliche Maßnahmen treffen müssen, um die Kinder zu beschützen. «
»Wir werden alles tun, was getan werden muss. Was hast du im Sinn?«
»Das Haus zur Festung auszubauen«, sagte ich. »Und es erbittert zu verteidigen.«
27
George Washington, Harper Lee und Flannery O’Connor blickten lächelnd auf mich herab, als wollten sie meine Unfähigkeit verspotten, das Rätsel ihrer Gemeinsamkeit zu lösen.
Schwester Angela saß an ihrem Schreibtisch und betrachtete mich über den Rahmen ihrer halben Lesebrille hinweg, die ein Stück weit an ihrer Nase herabgerutscht war. Vor sich hatte sie einen linierten gelben Notizblock liegen, in der Hand einen schreibbereiten Stift.
Bruder Constantine hatte uns nicht heraufbegleitet. Vielleicht war er endlich aus dieser Welt weitergezogen, vielleicht auch nicht.
Unruhig schritt ich im Zimmer auf und ab. »Ich glaube, die Brüder sind im Allgemeinen nur so weit gewaltlos eingestellt, wie es vernünftig ist. Die meisten würden kämpfen, um unschuldigen Mitmenschen das Leben zu retten.«
»Gott fordert von uns Widerstand gegen das Böse«, sagte die Schwester.
»Ja, Ma’am. Aber die Bereitschaft zu kämpfen reicht nicht aus. Ich brauche Leute, die auch wissen , wie man sich wehrt. Ganz oben auf der Liste steht da Bruder Knoche.«
»Bruder Salvatore«, berichtigte sie mich.
»Ja, Ma’am. Bruder Knoche wird tun, was zu tun ist, wenn die Kacke – « Ich stockte und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
»Du hättest den Satz ruhig vollenden können, Oddie. Die Worte am Dampfen hätten mich nicht im Mindesten gekränkt.«
»Verzeihung, Schwester.«
»Ich bin zwar eine Nonne, aber nicht naiv.«
»Ja, Ma’am.«
»Also, wer außer Bruder Salvatore noch?«
»Bruder Victor hat sechsundzwanzig Jahre bei der Marineinfanterie gedient.«
»Aber der ist doch schon siebzig.«
»Stimmt, Ma’am, aber bei den Marines war er trotzdem.«
»Kein bess’rer Freund, kein schlimm’rer Feind«, zitierte sie den Wahlspruch der Marineinfanterie.
»So jemand ist genau das, was
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