Schattennaechte
unterschiedlich dicken und etwas schief sitzenden Rattenschwänzen zusammengebunden. Auch ihr Kleid hatte sie selbst ausgesucht – ein blau-weißes Sonnenkleid. Sie war eben ein richtiges Mädchen.
»Vielleicht nächste Woche«, sagte Anne. »Heute Abend kommt Daddy nach Hause. Er hat mir gesagt, dass er morgen einen Ausflug mit uns machen will.«
Haleys Augen begannen vor Vorfreude zu leuchten. »Wohin denn? In den Zoo? Gehen wir in den Zoo?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es ist ein Geheimnis!«
»Ich will in den Zoo!«, sagte Haley und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab. »Antony will auch in den Zoo! Gehen wir in den Zoo?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte Anne. »Wir werden sehen.«
Haley stöhnte auf und ließ sich gegen sie sinken.
»Haley, komm endlich!« Der Ruf kam von einem kleinen rothaarigen Mädchen, das ein paar Meter von ihnen entfernt auf einer der Schaukeln saß.
Anne gab ihrer Tochter einen Kuss. »Lauf, und viel Spaß, Schätzchen. Ich muss arbeiten. Mittags hole ich dich ab. Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb, Mommy«, sagte Haley und winkte ihr noch einmal zu, bevor sie zu ihren Freundinnen lief.
Anne sah ihr nach und dachte dabei – wie jeden Tag –, wie viel Glück sie doch gehabt hatte. Sie hatte dem Tod mehr als einmal ins Gesicht gesehen. Jeder Tag mit ihren Kindern kam ihr vor wie ein Geschenk.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und sprach ein kurzes Dankgebet für das neue Leben, das in ihr heranwuchs. Sie war eine glückliche Frau. Sie hatte einen wunderbaren Mann, hübsche Kinder, einen Beruf, der sie ausfüllte.
Dann dachte sie an Lauren Lawton. Lauren hatte ebenfalls ein schönes Leben gehabt. Einen liebevollen Ehemann – der jetzt tot war. Zwei bildhübsche Töchter – von denen eine verschwunden war.
Ihre Gedanken kehrten zu Leah zurück, und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.
Als hätte sie sie damit herbeigezaubert, kam in diesem Moment Lauren auf sie zu.
»Man hat mir am Empfang gesagt, dass ich Sie wahrscheinlich hier finde.«
Sie sah furchtbar aus, dachte Anne. Blass und durchscheinend wie ein Gespenst, abgemagert, mit tiefen dunklen Schatten unter den Augen. Sie hätte ein Junkie auf Entzug sein können oder eine Krebspatientin nach der Chemotherapie.
»Mein morgendliches Ritual«, sagte Anne, ohne sich anmerken zu lassen, wie erschrocken sie über das Aussehen der anderen Frau war. »Haley und ich drehen hier jeden Morgen eine Runde und unterhalten uns, bevor ich ins Büro gehe.«
Lauren blickte hinüber zu den schaukelnden Mädchen. »Niemand käme auf die Idee, dass sie nicht Ihr leibliches Kind ist. Sie sieht Ihnen sehr ähnlich. Haben Sie sie als Baby adoptiert?«
»Nein«, sagte Anne, »Haley war vier Jahre alt. Ihre Mutter wurde ermordet. Sie war die einzige Zeugin.«
Lauren sah sie entsetzt an wie die meisten Leute, wenn Anne ihnen die tragische Geschichte ihrer Tochter erzählte. Damit hatte sie es bereits zum zweiten Mal geschafft, Lauren aus der Fassung zu bringen – mit Haleys Geschichte und mit ihrer eigenen –, und das war gut.
Ihrer Erfahrung nach musste man Opfer manchmal gewaltsam aus ihrer Versunkenheit in die eigenen grauenhaften Erlebnisse reißen. Nicht um das, was sie durchlitten hatten, abzuwerten, sondern um ihnen zu zeigen, dass auch andere Menschen schlimme Dinge erlebt hatten und damit fertiggeworden waren und ihr Leben weiterlebten.
»Mein Gott«, sagte Lauren. »Kann sie sich daran erinnern?«
»Zum Teil«, antwortete Anne. »Anfangs ist sie jede Nacht schreiend aufgewacht. Mittlerweile hat sie es ganz gut verarbeitet. Am wichtigsten für sie war es zu wissen, dass sie in Sicherheit ist.«
»Das Gefühl kenne ich«, sagte Lauren leise, den Blick auf Haley gerichtet – ein lachendes, glückliches Kind. Anne vermutete, dass sie das kleine Mädchen beneidete.
»Wenn man einen Albtraum durchlebt hat, ist es schwierig, sich vorzustellen, dass man jemals wieder zur Normalität zurückkehren kann, nicht wahr?«
»Nein, es ist unmöglich«, murmelte Lauren.
»Lassen Sie uns reingehen«, sagte Anne. »Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse Kaffee brauchen. Haben Sie geschlafen in den letzten … in den letzten ein, zwei Jahren?«
»Mein Gott. Sehe ich so schlimm aus?«
»Ich will Ihnen nichts vormachen«, sagte Anne, als sie sich auf dem Weg zum Hauptgebäude machten. »Sie kennen die Antwort bestimmt selbst. Ich weiß, dass ich in den ersten Monaten
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