Schattennaechte
Tränen. Anne hatte in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden gesehen, der es nötiger gehabt hätte, in den Arm genommen zu werden, aber sie hielt sich wohlweislich zurück. Sie vermutete, dass es bei Lauren nicht gut ankommen würde.
Lauren hatte die vergangenen vier Jahre damit verbracht, für ihre Tochter, gegen den Zusammenbruch und gegen die dunkle Energie zu kämpfen, die jedes Opfer einer Gewalttat überfiel. Sie war in die Rolle einer Kriegerin geschlüpft, die sich keine Schwäche erlaubte.
Anne wusste, dass sich dahinter Angst verbarg – die Angst, dass es ihr Ende wäre, wenn sie zuließ, dass die Rüstung einen Riss bekam. Sie würde zusammenbrechen. Die Kraft, die ihr geholfen hatte, jeden einzelnen Tag in ihrer ganz persönlichen Hölle zu überstehen, würde sie verlassen, und was würde dann aus ihr werden? Was würde von ihr bleiben? Wie würde sie es von einem Tag zum nächsten schaffen? Wie könnte sie der Tochter, die ihr geblieben war, eine Mutter sein?
»Egal, was es ist«, sagte Anne, »Sie brauchen Freunde, die Ihnen helfen, alles durchzustehen. Und Sie werden niemanden finden, der für diese Aufgabe besser geeignet ist als ich.«
Lauren zwang sich zu einem Lächeln. Sie schaffte es zu nicken, hielt den Blick jedoch noch immer von Anne abgewendet. Kaum hörbar murmelte sie: »Danke.«
Anne fragte sich, ob es hinter der Mauer, die Leah um sich herum errichtet hatte, genauso aussah – ob Leah auch von so großer Angst erfüllt war und von Trauer und Schuldgefühlen und Ungewissheit zerfressen wurde. Wahrscheinlich war es so, und sie hätte gern mit Lauren darüber gesprochen, aber Lauren wirkte so zerbrechlich … Sie musste ganz vorsichtig vorgehen.
»Dieses Angebot gilt auch für Leah«, sagte sie. »Sie sitzen beide im gleichen Boot. Sie müssen mit der gleichen Situation fertigwerden, und bestimmt kommt es Ihnen beiden so vor, als würden Sie in ihren Gefühlen untergehen. Sie können sich nicht gegenseitig stützen, aber Sie brauchen beide jemanden, der Sie stützt. Sie brauchen einen Ort, an dem Sie Druck loswerden und einen Teil der Last abwerfen können – Sie brauchen das und Leah auch.«
Anne konnte förmlich sehen, wie in Laurens Kopf die mütterlichen Alarmglocken zu schrillen begannen.
»Sie haben doch gesagt, Leah ging es gestern Nacht gut«, sagte Lauren. »Was verschweigen Sie mir?«
»Nichts, wirklich«, erwiderte Anne und verfluchte sich im Stillen.
»Hat sie etwas gesagt?«
»Nein. Ich bin nur besorgt, weil ich weiß, dass Mädchen in ihrem Alter zu dem einen oder anderen Extrem neigen. Entweder entwickeln sie einen Hang zum Dramatischen, oder sie haben Angst davor, jemandem zu zeigen, wie es wirklich in ihnen aussieht. Leah gehört zur zweiten Kategorie, und sie scheint enorm viel in sich zu verschließen«, sagte Anne. »All das nicht rauszulassen, das kann schlimme Folgen haben.«
Ganz zu schweigen davon, dass es gefährlich war – aber davon sagte sie lieber nichts. Sie sagte nicht, dass bei Mädchen, die so unter Druck standen wie Leah, das Risiko selbstzerstörerischen Verhaltens bestand – von übermäßigem Alkoholkonsum über Essstörungen bis hin zu Autoaggressivität und Selbstmord. Sie hatte keine Anzeichen dafür entdeckt, aber die Gefahr bestand, lauerte hinter Leahs Beherrschtheit. Ihre Mutter musste sich dessen bewusst sein.
»Ich weiß, dass ich nicht gerade die tollste Mutter bin«, setzte Lauren an.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Anne. »Ich bin sicher, dass Sie eine großartige Mutter sind, sonst wäre Leah nicht so ein nettes Mädchen. Und ich bin sicher, dass Sie sie sehr lieben. Ich will nur sagen, wenn ein Blinder den anderen führt, dann kommen beide nicht an ihr Ziel, ohne gegen die eine oder andere Wand zu laufen. Lassen Sie sich von jemandem führen, der sehen kann.«
Anne beobachtete Lauren und hoffte, dass sie nicht zu weit gegangen war.
Sie nahm einen Muffin und warf ihn Lauren zu wie einen Ball, um sie aus ihren quälenden Gedanken zu reißen.
»Ich lasse Sie hier nicht raus, bevor Sie den gegessen haben.«
Lauren betrachtete den Muffin, als könnte er sie beißen, brach jedoch gehorsam ein Stück ab und schob es sich in den Mund.
»Und, was haben Sie mit Ihrem freien Abend angefangen?«, fragte Anne. »Ich hoffe, Sie konnten sich ein bisschen entspannen, haben sich in die Badewanne gelegt und sich ein Glas Wein gegönnt, ein Buch gelesen. Das würde ich gern machen, aber als Mutter eines Kleinkinds muss ich mich
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