Schattennaechte
Mutter besser als mit der, die sie hatte.
Leah und sie hatten zusammen geweint. Sie hatte all die Dinge gesagt, die eine Mutter sagte. Sie hatte versprochen, sich zu bessern, weniger zu trinken, mehr zu essen, Daddys Waffe wieder wegzupacken. Lügen, Lügen, nichts als Lügen.
Sie hatten zusammen gefrühstückt, so wie eine Familie es tat. Lauren hatte das Rührei hinuntergewürgt, das Leah für sie zubereitet hatte. Sie war, Leah hinterm Steuer, in Oak Knoll herumgefahren, weil Leah bald sechzehn Jahre alt wurde und sie dann ihren Führerschein machen wollte.
Sie hatte es geschafft, wie ein vernünftiger Mensch zu wirken, als sie Wendys Mutter trafen. Die Mädchen hatten beschlossen, an dem eintägigen Malkurs teilzunehmen, den Sara Morgan im Women’s Center gab. Am Spätnachmittag hatte Wendy eine Tennisstunde, und sie hatte Leah gefragt, ob sie mitkommen wollte. Sara würde sie hinfahren, und Lauren würde am Abend in die Stadt kommen, und sie würden alle zusammen wie ganz normale Menschen miteinander zum Essen gehen.
Lauren wusste nicht, wie sie das durchstehen sollte, aber um Leahs willen wollte sie es versuchen.
Aber kaum hatte sie das Thomas Center verlassen und sich geschworen, sich um Leahs willen um Normalität zu bemühen, da fuhr sie auch schon zu Roland Ballencoas Adresse. Sie stellte ihr Auto um die Ecke ab, starrte zu seinem Haus hinüber und fing an nachzudenken.
Hast du mich vermisst?
Selbst wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn zu vergessen, würde ihr das nie ganz gelingen. Er würde immer Teil ihres Lebens sein.
Hast du mich vermisst?
Sie nahm die Karte aus ihrer Handtasche und musterte sie.
Roland Ballencoa war der Grund für all ihre Ängste, all ihre Wut, all ihre Schuldgefühle und Verzweiflung. Der Hass, der bei dem Gedanken an ihn in ihr aufloderte, ließ sie buchstäblich rotsehen. Die Karte färbte sich vor ihren Augen rot wie Blut.
Hast du mich vermisst?
Sie nahm einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb unter die fein säuberlich getippte Zeile: Wenn wir uns wiedersehen, dann in der Hölle.
Sie schob die Karte wieder in den Umschlag und saß still da. Merkwürdig, wie ruhig sie war, dachte sie. All die widersprüchlichen Gefühle, die in ihr tobten, hatten sich in ein leises Hintergrundrauschen verwandelt. Jetzt dachte sie nicht mehr, jetzt handelte sie.
Als hätte sie keine Gewalt mehr über ihren Körper, stieg sie aus, ging über die Straße und weiter zur Veranda von Roland Ballencoa.
Was, wenn er sie sah? Was, wenn er zur Tür kam? Was würde er zu ihr sagen? Was würde sie zu ihm sagen? Was, wenn er versuchte, sie zu packen?
Was, wenn meine Tochter in dem Haus ist? Was, wenn sie in einer Kiste unter seinem Bett liegt? Was, wenn ich die Waffe auf ihn richte? Was, wenn ich es müde bin, sein Opfer zu sein?
Hinter all ihrer Besessenheit regte sich fast so etwas wie eine gespannte Vorfreude. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass er zur Tür kam.
Die Walther steckte im Bund ihrer Jeans, verborgen unter ihrem weiten T-Shirt – einst hatte es ihrem Mann gehört, den sie nur Roland Ballencoas wegen verloren hatte.
Was, wenn sie auf die Klingel drückte? Was, wenn er an die Tür kam, sie ihm ins Gesicht schoss und ihn tötete, wie sie es in ihrem Traum getan hatte?
Sie konnte es genau vor sich sehen. Immer wieder hatte sie sich diesen Moment vorgestellt. Ein Teil von ihr wollte diese Konfrontation, wollte diesem Albtraum ein für alle Mal ein Ende machen. Und es gab einen anderen Teil, der wusste, sie sollte sich umdrehen und weglaufen.
Was ist mit mir? , hatte Leah weinend gefragt. Die letzten Stunden hatte Lauren sich dafür gegeißelt, sich nicht genug um ihre Tochter gekümmert zu haben, der Tochter, die ihr geblieben war, keine gute Mutter gewesen zu sein.
Und doch bin ich hier.
Lieber Gott, hilf mir.
Warum sie Gott anrief, wusste sie selbst nicht. Keines ihrer vielen Gebete in den letzten vier Jahren hatte ihr geholfen. Warum sollte es dieses Mal anders sein?
Sie warf die Karte in Ballencoas Briefkasten neben der Haustür, machte kehrt und ging weg, ohne sich noch einmal umzudrehen und zu sehen, ob er sie beobachtete.
Laurens Kopf war vollkommen leer, als sie nach Hause fuhr. Sie bemerkte nichts um sich herum, nicht den Verkehr oder die Gesichter der Leute auf den Straßen. Sie hörte nichts. Das innere Stimmengewirr war verstummt.
Sie dachte nicht darüber nach, ob das, was sie eben getan hatte, richtig oder falsch war, klug oder dumm.
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