Schattennetz
mit dem jungen Mann zu tun, dachte Sabrina. Oder sollte ihr etwas entgangen sein?
»Ich muss mich erst mal neu orientieren«, versuchte sie das Thema zu wechseln. »Ich hab doch keine Ahnung, welche Geschäfte Alexander sonst noch gemacht hat. Nachts und auswärts.«
»Er hat Ihnen nie gesagt, wo er war, wenn er nicht heimgekommen ist?« Die Frage war eigentlich überflüssig, weil er die Antwort kannte, aber Sergije wollte damit dokumentieren, dass er Anteil nahm.
»Nie«, erwiderte sie. »Gar nie. Ich hab mir schon überlegt, ob vielleicht du etwas weißt. Er hatte doch angeblich Freunde, die ebenfalls aus Russland übergesiedelt sind.«
»Ich hab davon gehört, aber ich hab so gut wie keinen Kontakt zu den Landsleuten hier.« Er kniff die Lippen zusammen und fuhr nach kurzem Nachdenken fort: »Die hängen doch nur rum und saufen Wodka. Viele in meinem Alter sind bis heute nicht damit zurechtgekommen, dass ihre Eltern sie im Kindes- oder Jugendalter mit rübergenommen haben. Sie sprechen kaum Deutsch und haben Probleme, sich zu integrieren, weil sie es auch nicht wollen.« Sergije beugte sich mit seinem kräftigen Oberkörper zur Schreibtischplatte vor. »Wenn ich nicht gleich Deutsch gelernt hätte, wäre ich nun einer von denen.«
Sabrina lächelte ihm aufmunternd zu. »Ganz bestimmt, ja. Nur wer die Sprache des Landes beherrscht, kann sich beruflich und sozial integrieren. Wer das nicht tut, bringt meiner Ansicht nach zum Ausdruck, dass er nicht ernsthaft in die Gesellschaft aufgenommen werden will, sondern nur die Vorteile genießen möchte.« Wenn sie daran dachte, wie viel Steuer- und Sozialversicherungsgelder auf diese Weise ausgegeben werden mussten, überkam sie jedes Mal ohnmächtiger Zorn. »Oder überhaupt etwas ganz anderes im Schilde führt«, gab sie zu bedenken, ohne näher darauf einzugehen. In ihrem Geiste tauchten bei solchen Gelegenheiten immer wieder die einstürzenden Türme des World-Trade-Centers auf, dessen Zerstörung zumindest teilweise auch auf deutschem Boden ausgebrütet worden war.
»Wie gut kennst du eigentlich Anton?«, fragte sie plötzlich, um diese Bilder loszuwerden.
»Ihren Schwager? Na ja, Sie wissen ja, dass er mir die Arbeit bei Ihnen verschafft hat. Ich war drüben arbeitslos, wie die meisten in meinem Alter es sind.« Sergije lehnte sich zurück. »Ich war vier, als meine Eltern aus der Gegend von Leningrad – heute sagt man ja Sankt Petersburg – zuerst nach Potsdam, dann nach Lübbenau im Spreewald und schließlich nach Bischofswerda gekommen sind. Dort hab ich die Hauptschule abgeschlossen – nach einmaligem Sitzenbleiben.«
»Und wie haben Sie meinen Schwager kennengelernt?« Eigentlich hatte Sabrina ihn dies schon lange fragen wollen, doch hatte sich nie die Gelegenheit geboten. Und Alexander war diesem Thema immer ausgewichen.
»Ich hab mich mal bei ihm beworben – als Sicherheitsmann. Doch ohne Ausbildung, das seh ich ein, macht das wenig Sinn. Er hat deshalb auch meist auf erfahrene Kräfte zurückgegriffen.«
»Erfahrene Kräfte?«
»Na ja, ehemalige Polizisten und so. Leute eben, die entsprechende Kenntnisse haben und die nach der Wende auch plötzlich arbeitslos waren.«
»Auch Stasimitarbeiter?«
»Mit Sicherheit, ja. Aber das ist nichts Ungewöhnliches – bei der Menge von Stasispitzeln, die es gegeben hat. Ich vermute, dass er eher Polizisten und Angehörige der Nationalen Volksarmee bevorzugt hat.«
Sabrina nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Hat er denn jemals …« Sie hielt inne, weil in diesem Moment die Bürotür aufgerissen wurde und Silke vor ihr stand. Sergije drehte sich auf dem Stuhl um und erhob sich. Er schaute in das blasse Gesicht des groß gewachsenen Mädchens. »Hallo, Silke«, strahlte er sie an. Für eine Sekunde blickte er in ihre blauen Augen und erhoffte eine Reaktion. Doch mehr als ein »Hallo, Sergije« kam nicht zurück. Sie ging zu ihrer Mutter, bückte sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Habt ihr eine Besprechung?«, fragte sie. »Soll ich wieder gehen?« Sie warf dem jungen Mann, der sich wieder gesetzt hatte, einen provozierenden Blick zu, was ihn verunsicherte. Er wollte etwas sagen, wagte es aber in Gegenwart ihrer Mutter nicht. Deshalb erhob er sich wieder. »Nein, nein«, gab er sich bescheiden. »Ich hab mich nur erkundigen wollen, wie es deiner Mutter geht.« Er lächelte Sabrina zu und verließ den Raum.
»Was hat er denn gewollt?«
»Ich glaub, er macht sich Sorgen, wie es hier
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