Schattennetz
weitergeht. Um ehrlich zu sein, ich mir auch.«
»Du solltest dir jetzt nicht zu viele Gedanken machen, Mami. Mit Sergije läuft es doch ganz gut, oder?«
»Vielleicht macht er sich sogar Hoffnungen, im Geschäft mitmischen zu können.«
»Wär doch nicht schlecht«, meinte Silke und grinste vielsagend.
»Wie soll ich denn das jetzt verstehen?«
»Wenn er dringend einen Job braucht, wird er keine großen Ansprüche stellen. Wenn du ihn rausschmeißt, steht er auf der Straße. Ohne Berufsausbildung – und nur mit Hauptschulabschluss.«
Sabrina sah ihre Tochter vorwurfsvoll an. »Du denkst schon wie dein Vater. Einschüchtern und ausnützen.«
»Aber so läuft es doch überall. Lies doch die Wirtschaftsnachrichten und vergiss deine soziale Ader. Oder red mal mit meinen Schulfreunden. Die können dir die tollsten Storys von ihren Eltern erzählen, die als Angestellte oder Arbeiter schamlos ausgenutzt werden. Und die Bosse lassen sich feiern – Hauptsache, sie faseln was von Arbeitsplätzen, die sie natürlich unbedingt erhalten wollten.«
Sabrina überlegte, auf welcher Seite ihre Tochter im Moment stand. Wollte Silke die Methoden der Unternehmer anprangern oder vorschlagen, es ihnen nachzutun?
»Wenn du Sergije vorjammerst, du könntest den Laden hier nur fortführen, wenn er auf 10 Prozent seines Gehalts verzichtet und täglich eine Stunde länger arbeitet, dann kannst du mehr aus der Klitsche rausschlagen«, schlug das Mädchen vor und fügte hinzu: »Wenn ihm an dem Job liegt, wird er dir die Füße küssen, wenn du ihm auch noch andeutest, dass sein Arbeitsplatz damit vermutlich für mindestens ein Jahr gesichert ist.«
Sabrina sah zu ihrer Tochter auf. So hatte sie nie geredet, als Alexander noch lebte. »Im Moment besteht keine Notwendigkeit, an diesem Arbeitsverhältnis etwas zu ändern«, entgegnete sie ruhig.
»Ist doch egal. Jetzt ist die Zeit günstig. Glaubst du denn im Ernst, der allgemeine Sozialabbau sei überall betriebswirtschaftlich notwendig gewesen? Nie im Leben! Man macht das, wenn die Zeit günstig ist.«
Sabrina vermutete, dass Silke neuerdings einen sozialkritischen, vermutlich rot-grün angehauchten Lehrer hatte – oder war es ihr neuer Freund, der sie politisch beeinflusste?
»Und ich sag dir, Mami. Diese günstige Zeit hat Bundeskanzler Schröder eingeleitet. Nur der.« Silke stellte sich jetzt provozierend vor den Schreibtisch ihrer Mutter. »Das war ein waschechter Kapitalist im sozialistischen Gewande.« Sie verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »In der Computersprache würde man sagen: Ein trojanisches Pferd.«
Sabrina war es nicht zum Lachen zumute. Sie durchzuckte plötzlich etwas, als habe sich ihrer ein Gedanke bemächtigt, der ihr bis dahin völlig fremd gewesen war. Nein, nicht Silkes Redefluss und ihre politischen Ansichten hatten sie irritiert. Es war etwas anderes gewesen.
So hatte sich Häberle einen Kirchenmusikdirektor immer vorgestellt: Feingliedrige Finger, sensibel, leicht abwesend, dünnes, widerspenstiges Haar – eben ein Künstler, dachte der Chefermittler, als er zusammen mit Linkohr in dem antiquarisch eingerichteten Wohnzimmer auf einer massigen Couch Platz nahm. Das Haus, das an eine Jugendstilvilla erinnerte, schmiegte sich an einen Südwesthang oberhalb des Hauptbahnhofs – an die sogenannte Schlosshalde. Tilmann Stumper und seine Ehefrau saßen den beiden Kriminalisten auf Sesseln gegenüber und lauschten aufmerksam Häberles Begründung für den Besuch. Stumper zeigte dafür Verständnis und erklärte, dass er bereits gestern damit gerechnet habe, seine Angaben zu Protokoll geben zu müssen. Dann schilderte er bereitwillig, was er am späten Freitagabend und in den folgenden Nachtstunden erlebt und gesehen hatte. Häberles Interesse galt jedoch den Stunden vorher: »Sie haben am Donnerstagnachmittag in der Kirche Orgel gespielt?«
»Ja, immer donnerstags tue ich das«, erwiderte Stumper und machte mit den Fingern flinke Bewegungen, als wolle er sich gleich an das Klavier setzen, das links von ihm an der holzvertäfelten Wand stand. »Toccata und Fuge in d-Moll, Bachwerkeverzeichnis 565«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas sagt. Ziemlich kompliziertes Stück. Ich will es an Weihnachten spielen.«
Häberle ging nicht darauf ein, während Linkohr hinter den gläsernen Türchen des Wandschranks glänzende Becher und Schalen erkannte.
»Das war also am Nachmittag«, kam der Chefermittler zur Sache. »Einem meiner Kollegen
Weitere Kostenlose Bücher