Schattenpakt - Roland, L: Schattenpakt - Viper Moon (01 The Novel of the Earth Witches)
konnten einen Moment lang nichts erkennen, weil unsere Augen sich erst wieder den Lichtverhältnissen anpassen mussten. In der Eingangshalle stand ein einziger schmaler Tisch, hinter dem eine genauso schmale Frau saß. Ihre langen, knochigen Finger umklammerten einen Telefonhörer. Sie strahlte etwas Ungesundes aus, fast als würde eine chronische Krankheit sie erschöpfen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Ihre Lippen bewegten sich beim Sprechen kaum. »Man hat mir nicht Bescheid gesagt, dass …«
»Wir sind hier, um Elise Ramekin zu sehen.« Ich trat an den Tisch und legte so viel Autorität in meine Stimme, wie ich aufbringen konnte. Die Empfangsdame war nicht sonderlich groß, und das verschaffte mir den Vorteil, dass ich sie überragte.
Sie zögerte, und deshalb sprach ich schnell weiter. »Ich bin eine Freundin Ihres Sohnes, Michael.«
»Können Sie sich irgendwie ausweisen?« Sie nahm ihre Hand vom Telefon.
Ich fischte meinen Führerschein aus meiner Brieftasche, und Flynn zückte Marke und Ausweis. Ihr Blick glitt über meinen Führerschein … bei Flynns Ausweis ließ sie sich mehr Zeit. Flynn hatte nicht Michaels Charme. Er besaß nicht diese hypnotische Ausstrahlung, die sagte: Bewundere mich, bete mich an. Flynn ging es eher auf der menschlichen Ebene an. Er bat um nicht mehr als guten Willen und schien ihn in diesem Falle auch zu erhalten.
»Waffen sind hier nicht erlaubt …«
»Habe keine.« Flynn lächelte. Er schlug seine Weste zurück, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Er bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Ein privater Besuch.«
Beinahe hätte die Frau sein Lächeln erwidert. Wahrscheinlich hätte ich ihn von Anfang an mit ihr Süßholz raspeln lassen sollen, anstatt zu versuchen, sie einzuschüchtern. Verdammt! Ich hab hier das Kommando. Ich sah ihn wütend an, und er zwinkerte mir zu. Ich widerstand dem Impuls, ihn zu schlagen.
Ihr Blick ruhte die ganze Zeit auf ihm, während sie telefonierte. »Mrs. Ramekin hat Besuch.«
Ein Schloss klickte, und die Tür zu meiner Rechten ging auf. Eigentlich zwei Türen … eine aus Holz und dahinter eine Gittertür. Eine Frau mit dem Gesicht einer Maus trat hindurch. An ihrer weißen Schwesternuniform war ein Namensschildchen angebracht.
Die Empfangsdame winkte uns zu. »Die Schwester wird Sie begleiten.« Dieses Mal lächelte sie Flynn an.
Die mausgesichtige Krankenschwester, die eine so niedrige Position in der Hierarchie einnahm, dass noch nicht einmal die Empfangsdame sie vorstellte, trat zurück und bedeutete uns, ihr zu folgen. Sie schloss und verriegelte die Tür hinter uns, und wir folgten ihr durch einen stillen Flur. Sie hielt den Rücken so gerade, dass ihre Hüften sich kaum bewegten, doch die praktischen Gesundheitsschuhe mit den dicken Sohlen quietschten leise bei jedem Schritt über die gebohnerten Dielen.
Wir gingen durch einen Metalldetektor und eine weitere Gittertür. In diesem Gang war mehr los: Krankenschwestern liefen hin und her, ein Hausmeister wischte den Boden, und ein Handwerker mit Leiter reparierte gerade irgendetwas. Nachdem wir die letzte Sicherheitsschleuse passiert hatten, kamen nur noch leere Gänge, in denen außer dem Quietschen und Schlurfen unserer Schritte nichts zu hören war.
»Das ist das Sonnenzimmer«, sagte das Mausgesicht. In ihrer Stimme schwang ein nasaler Tonfall mit. »Das ist sie.« Sie zeigte auf eine ziemlich kleine Frau, die neben einem großen vergitterten Fenster an einem Tisch saß. Irgendein Designer oder Architekt hatte wohl gemeint, dass natürliches Licht die Illusion von Freiheit schaffen würde, doch es erhellte nur den Käfig. Die Krankenschwester entfernte sich, aber nicht weit. Sie hatte in ihrer schneeweißen Uniform wie ein Soldat Habachtstellung eingenommen und bewachte die Tür, durch die wir gekommen waren.
In dem Raum mit der hohen Decke befanden sich mehrere Tische und Stühle, aber Elise war die Einzige, die in dem Zimmer saß. Sie wirkte wie ein zartes Kind, das allein und von den Schulkameraden geächtet im Speisesaal zurückgeblieben war.
Ich näherte mich ihr vorsichtig, denn ich wusste nicht, was mich erwartete. Bei den Stühlen schien es sich um feste Blöcke aus Schaumstoff zu handeln. Die Tische hatten abgerundete Ecken und waren am Boden festgeschraubt. Man schien auf mögliche Gewaltakte gut vorbereitet zu sein.
Elises kurzes Haar wirkte wie ein Helm aus reinem Schnee im Sonnenlicht. Sie trug Pantoffeln und ein blassgrünes Kleid, das den
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