Schattenpakt - Roland, L: Schattenpakt - Viper Moon (01 The Novel of the Earth Witches)
gleichen Farbton wie die Wände aufwies. Es erzeugte die Illusion, sie könnte vielleicht verschwinden, wenn sie vor so einer Wand stand. Den Zetteln, die vor ihr auf dem Tisch lagen, galt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie beugte sich mit höchster Konzentration über sie. Als wir näher traten, konnte ich auf den Blättern Zeichnungen erkennen, die mit schwarzer Kohle gemalt worden waren.
»Elise«, sagte ich leise. Ich hielt es nicht für klug, jemanden zu erschrecken, der so zerbrechlich wirkte.
Sie schaute nicht auf.
»Elise.«
Immer noch nichts.
Flynn legte eine Hand auf meinen Arm und sagte: »Elise?«
Elise hob den Kopf und starrte uns an. Sie hatte auf seine tiefere Männerstimme reagiert. Genau wie ich. Freundlichkeit und Wärme schwangen darin mit und verliehen ihr einen fast schon sündhaft vollen Klang. Bis auf ein paar kleine Falten auf der Stirn war Elises Gesicht glatt wie bei einer Frau, die nicht älter als dreißig ist. Sie wirkte erst unsicher, doch das hörte auf, als ihr Blick auf Flynn fiel. Sie stand sofort auf, legte ihr winziges Stück Kohle auf den Tisch und warf sich ihm förmlich in die Arme.
Damit hatte sie ihn überrascht, doch er schien die seltene Gabe zu besitzen, emotionale Bedürftigkeit zu erkennen und sofort darauf zu reagieren. Sanft legte er seine Arme um sie.
»Wie geht es dir heute, Elise?« Er strich ihr über das weiße Haar.
Elise lachte mit einer melodischen Stimme, die ganz nach einer weiblichen Version von Michael klang.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist.« Sie legte den Kopf schräg, während sie ihn musterte. »Ah, der Wolf. Der Guardian. Ja. Du bist wirklich schön.« Echte Freude schwang in ihrer Stimme mit.
Flynn schnappte kurz nach Luft, veränderte seine Haltung aber nicht. Ich biss mir auf die Unterlippe und achtete darauf, nicht das Gesicht zu verziehen. Der Guardian. So hatte ihn auch die Erdmutter genannt. Es überraschte mich, aber warum überraschte es auch ihn, dass Elise ihn so ansprach?
Flynn führte Elise zu ihrem Stuhl zurück, ließ sie sich setzen und kniete sich dann neben ihr hin. Mich beachtete sie gar nicht.
»Elise«, sagte Flynn. Er hielt ihre Hand. Er sprach sehr deutlich, als würde er mit einem Kind reden. »Meine Freundin Cass möchte dir ein paar Fragen stellen. Sie ist …«
»Die Jägerin.« Elise klang ein bisschen verärgert. »Die Hündin der großen heiligen Hure.«
Ich stieß einen Seufzer aus. Heilige Hure . Den Namen für die Erdmutter hatte ich schon mal gehört oder in Abbys Geschichtsbüchern zumindest gelesen. Die Mutter hatte Tausende von Jahren über Männer und Frauen geherrscht, bis die männlichen Himmelsgötter aufkamen – die Götter von Anarchie und Krieg. Ab da wandte sich die Menschheit von ihr ab, und ihre Töchter wurden nur noch als Besitztümer gesehen und nicht mehr als Gehilfinnen. Und die gemeinen Namen, die man der Erdmutter gab, wandte man jetzt auch auf alle Frauen an.
Damit ich mich ebenfalls auf Augenhöhe mit ihr unterhalten konnte, trat ich auf ihre andere Seite und kniete mich hin. Dabei konnte ich einen Blick auf ihre Zeichnungen werfen. Es waren alles hervorragende Darstellungen von Michael. Eine zeigte einen sehr jungen Michael – vielleicht mit zehn oder elf –, doch er hatte bereits dieses unwiderstehliche Aussehen, das Frauen dazu brachte, ihn zu begehren. Ich hätte gern eine der Zeichnungen in die Hand genommen, um sie mir besser anschauen zu können, aber da die Blätter und die Zeichenkohle ihre einzigen Besitztümer zu sein schienen, tat ich es dann doch nicht. Labile Menschen hingen häufig an bestimmten Dingen, um ihrem Leben etwas Beständiges zu geben.
Sie hatte mich als Hündin bezeichnet. Ich war mir sicher, dass Elises Gehirnzellen viel besser funktionierten, als alle glaubten – oder war ich einfach nur wütend, weil sie mich mit dem Schimpfwort gekränkt hatte?
»Das sind wirklich schöne Bilder von Michael«, sagte ich und deutete auf die Zeichnungen. »Kommt er häufig zu Besuch?«
»Häufig genug. Er ähnelt seinem wundervollen Vater so sehr.« Elise antwortete auf meine Frage, ohne mich dabei anzusehen. Sie hob ihre dünne Hand und strich damit über Flynns Wange. Im Gegensatz zu ihrem Gesicht war ihrer Hand das Alter deutlich anzusehen. Wie alt mochte sie wohl sein? Sechzig? Siebzig? Nein, bestimmt nicht.
»Ich versuchte, ihn zu retten«, erzählte sie. »Meinen wunderschönen Jungen. Meinen Michael. Ich versuchte, ihm das größtmögliche
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