Schattenprinz 02 - Der Prinz der Klingen
der sie kein Seil brauchen würden, aber sie musste behutsam vorgehen, wenn sie Sahif dorthin lenken wollte, ohne Verdacht zu erregen. » Vielleicht ist dieser Wall irgendwo so beschädigt, dass wir hineingelangen können«, sagte sie und gab sich zaghaft.
» Aber wo?«, fragte Sahif. » Wir können stundenlang um diese Stadt herumlaufen, ohne auch nur das kleinste Loch zu finden. Gäbe es eine Bresche, dann hätten die Angreifer die Stadt doch gestürmt.«
» Aber die Scholaren gehen dort hinein, das hat Hawid selbst gesagt. Und ich glaube, er sagte etwas von einer Lücke im Osten.«
» Wirklich? Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Ela Grams.
» Doch, ich bin sicher. Es kann sein, dass er es sagte, als du mit der Ghula gesprochen hast.«
» In diesem kurzen Augenblick?«, fragte Ela misstrauisch.
» Es ist der einzige Anhaltspunkt, den wir haben«, beendete Sahif den aufkeimenden Streit und entschied: » Wir gehen nach Osten.«
Sie gingen schon eine ganze Weile, als Ela sagte: » Ist das nicht eigenartig, dass hier gar keine Skelette liegen? Die ganze Ebene ist übersät mit Knochen, nur hier, wo doch wohl gekämpft wurde, ist nichts.«
» Das hier war Krieg, und sie haben die Toten wohl noch beerdigt«, meinte Sahif, » später, das war Wahnsinn, und sie ließen die Leichen, wo sie waren.«
» Krieg und Wahnsinn, kein großer Unterschied, wenn ihr mich fragt«, murmelte das Köhlermädchen.
Jamade schwieg. Sie kannte andere Geschichten aus der Schule der Schatten, wo man sich erzählt hatte, dass die hungernden Menschen aus der Stadt am Ende die Toten geholt hatten, die in der Nähe der Mauer gefallen waren, um sie zu essen. Angeblich, so hieß es, hätten Krankheit und Wahnsinn, die die Belagerer erfasst hatten, dadurch schließlich doch die Mauern überwunden und auch die Bewohner der belagerten Stadt vertilgt. Das war die eine Geschichte. Die andere erzählte, dass die Nekromanten fürchterliche Dinge mit den Gefallenen und Verhungerten gemacht hätten, Dinge, über die nicht einmal die Schattenmeister reden wollten. Jamade machte sich ihre eigenen Gedanken. Sie wusste, das alles war hundert Jahre vergangen, und beinahe alle Beteiligten waren lange tot – beinahe alle. Sie waren auf dem Weg zu dem einen, der noch lebte.
» Da vorn«, rief Sahif, nachdem sie eine Zeitlang der Mauer gefolgt waren. Vor ihnen tat sich die Lücke auf, die Jamade gesucht hatte. Es war keine richtige Bresche, auch wenn die Angreifer mit Katapulten hier die Mauer schwer beschädigt hatten. Sie war eingedrückt, die Steine waren aus den Fugen geraten. Es war nicht allzu schwer hinaufzuklettern, jetzt, da niemand mehr da war, der diese Mauer verteidigte. Sahif machte den Anfang und half Jamade, die sich in Ainas Leib absichtlich ungeschickt anstellte und Ela Grams, die dicht hinter ihr war, einmal, wie aus Versehen, gegen die Stirn trat.
» Pass doch auf«, schimpfte das Mädchen, und Jamade tat erschrocken und entschuldigte sich wortreich.
Dann war die Mauer überwunden, und die Straßen von Du’umu lagen vor ihnen. Immer noch regte sich kein Wind, und das trübe Zwielicht des Himmels ließ die Häuser matt in einem unwirklichen Licht leuchten.
» Wohin jetzt?«, fragte Ela Grams.
Sahif hatte keine Antwort, aber Jamade ließ Aina sagen: » Vielleicht gibt es hier eine Burg oder eine Festung, auf jeden Fall doch sicher einen Palast, irgendwo in der Mitte der Stadt. Vielleicht sollten wir dort anfangen. Wenn es hier Schatten gibt, dann doch am ehesten dort.«
Sahif wirkte nicht überzeugt: » Mitten in einer Stadt? Ich weiß nicht, wenn ich mich hier verstecken wollte, dann doch sicher nicht in der Mitte der Stadt, wo am ehesten Fremde auftauchen werden. Denk nur an die Scholaren, die hier ihre Manuskripte suchen.«
» Vielleicht haben sie eine Übereinkunft«, meinte Jamade.
» Gesagt haben sie aber nichts«, warf Ela ein.
» Wir haben auch nicht gefragt«, rief Sahif. Und da niemand eine bessere Idee hatte, machten sie sich doch auf den Weg in die Stadtmitte.
Du’umu, das einst so stolze Bariri, war anders als die Hafenstadt Aban. Die Zerstörungen waren weniger schlimm und auf die Bezirke nahe der Mauer beschränkt. Jamade hatte sich hier früher gerne aufgehalten, denn hierher kamen weder andere Schüler noch die Meister der Schatten. Sie ließen die zerstörten Außenbezirke schnell hinter sich.
» Augenblick«, sagte Ela Grams auf einmal. » Ich glaube, wir werden beobachtet.«
Sahif fuhr herum, und auch
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