Schattenreiter
Platz auf der alten Hollywoodschaukel an, die mit Federn und Traumfängern geschmückt war.
»Was ist passiert?«
»Ich glaube, ich hatte so etwas wie eine Vision.«
»Langsam, langsam … wie meinst du das?«
»Na ja, ich hatte einen Traum, der immer wiederkehrt. Verstehen Sie? Es passiert immer wieder dasselbe.«
»Ein Déjà-vu?«
Ich setzte mich. Die Schaukel quietschte. Durch den Regen musste sie über die Jahre hinweg eingerostet sein.
»Ja und nein. Es war mehr als das. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass Rin Gefahr droht.«
Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand über das kantige Kinn. »Was hast du genau gesehen?«
»Er lag am Boden. Blut rann aus seinem Mund, und ein Tomahawk steckte in seinem Rücken. Ich … sah ihn sterben.« Die Erinnerung an diese Bilder versetzte mich erneut in Aufruhr, und mein Magen meldete sich. Ich drückte eine Hand auf den schmerzenden Bauch, in der Hoffnung, Schlimmeres zu verhindern.
»So etwas ist mir noch nie passiert. Ich meine, ich besitze keine besonderen Fähigkeiten. Ich bin ein ganz normales Mädchen. Wo kamen diese Bilder plötzlich her?«
Roy schwieg beharrlich. Ich war nicht sicher, ob er mir überhaupt zugehört hatte. Er nahm neben mir Platz und schlug ein Bein über das andere. Gedankenverloren zupfte er Gräser und Halme von seinen nackten Fußsohlen.
»Roy?«
»Verstehe«, sagte er schließlich, nachdem er seine meditative Reinigungsprozedur beendet hatte. »Alles kommt, wie ich es befürchtet habe.«
»Roy, wenn Sie etwas wissen, dann müssen Sie es mir sagen«, flehte ich ihn an.
»Ich weiß nicht, was es mit deiner Vision auf sich hat. Vermutlich hast du recht, und er wird in Schwierigkeiten geraten«, sagte er sachlich. Ich war entsetzt, wie er dabei so ruhig bleiben konnte.
»Was deine andere Frage angeht, so kann ich sie beantworten. Ich befürchte, die Verschmelzung hat bereits stattgefunden.«
»Die was?«
Er verdrehte die Augen angesichts meiner Unwissenheit.
»Für die Ti’tibrin E’neya ist die Gemeinschaft das höchste Gut. Sie leben in Familienverbänden, in Clans, die wiederum einem Stamm angehören. Doch es ist selten, dass sie eine Paarverbindung eingehen, die tief genug für eine Verschmelzung ist. Das liegt zum einen daran, dass nicht viele von uns übrig sind. Zum anderen haben wir mehr Zeit als ihr, um die richtige Gefährtin oder den richtigen Gefährten zu finden. Doch wenn sie Verbindungen dieser Art eingehen, sind sie sehr stark. Sehr intensiv. Es kann so weit gehen, dass ihre Seelen miteinander verschmelzen. Sie werden Malhamoti und Malhamota. Eins. Und das ist ziemlich wörtlich zu verstehen. Wenn ich recht habe, dann ist ein Teil von ihm in dir. Dieser Teil hat dir die Bilder geschickt, die du gesehen hast.«
Ich erinnerte mich an die traurige Geschichte von Malhamoti und Malhamota, die Rin mir erzählt hatte. Als er mich Malhamota genannt hatte, hatte ich mir gewünscht, dass wir uns tatsächlich auf ähnliche Weise miteinander verbinden würden. Dass es nun allem Anschein nach genau so war, überraschte mich dann doch. Hatte er womöglich bereits zu dem Zeitpunkt gespürt, dass ich seine Seelengefährtin war? Das konnte nicht sein. Nicht nach so kurzer Zeit. Roy schien meine Gedanken erraten zu haben.
»Manches ist nicht mit Sachverstand zu erklären. Wenn ihr füreinander bestimmt seid, dann spielt Zeit keine Rolle.« Ja, das würde erklären, wieso ich seine Gegenwart spüren konnte, obwohl er nicht bei mir war.Vielleicht hatte ich doch mehr von meiner Großmutter geerbt, als ich dachte. Dad hatte mir oft von ihr erzählt. Sie war eine Lakota gewesen, die, ähnlich wie Rin, gut mit Tieren umgehen konnte und an Geister glaubte. War ich deswegen empfänglicher für solche Dinge als andere?
»Aber … wann und … wie … ist das passiert?«
»In einem Moment der Innigkeit, in dem du bewusst oder unbewusst entschieden hast, Malhamota zu werden.« Er klang ungeduldig. Ich hatte das Gefühl, er wollte schnell wieder ins Haus. Aber noch würde ich ihn nicht entlassen.
»Was soll ich nur tun? Ich spüre, dass er in Gefahr ist, dass jemand ihn bedroht. Ich muss ihn irgendwie warnen.« Jetzt war ich mir noch viel sicherer, dass es sich wirklich um eine Vision handelte.
»Eine gute Idee, Mädchen. Aber nun lass mich wieder ins Bett gehen.«
Er wandte sich ab, doch ich holte ihn rasch ein und stellte mich ihm in den Weg. »Das ist nicht so einfach, Roy. Ich brauche Ihre Hilfe dafür. Ich kann nicht zu ihm,
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