Schattenriss
Einen Verrat an der Frau, mit der er nun schon seit anderthalb Jahren zusammenarbeitete und die er doch gerade erst kennenlernte. »Es ist nicht ausschließlich dienstlich.«
Sind Sie da sicher?, entnahm er dem Schweigen, mit dem seine Gesprächspartnerin auf diese Eröffnung reagierte. Und wahrscheinlich setzte sie gerade in Gedanken hinzu: Von privat wüsste ich aber was, mein Freund, da können Sie Ihren Arsch drauf verwetten ...
»Eine Kollegin von uns ...« Verhoeven schluckte. »Meine Partnerin befindet sich in einer überaus heiklen Situation und ich ...«
»Gütiger Himmel«, fiel Marie Wer-auch-immer ihm sofort wieder ins Wort. »Wollen Sie damit etwa sagen, es geht um Winnie?«
Winnie? Verhoeven stutzte. Offenbar war seine Partnerin mit weitaus mehr Leuten vertraut, als er gedacht hätte.
»Ja«, räumte er beinahe widerwillig ein, weil er sich mit einem Mal irgendwie ausgeschlossen fühlte. »Es geht um Frau Heller.«
»Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?!« Die Frau am anderen Ende der Leitung stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hören Sie, ich fürchte, alles, was ich im Augenblick tun kann, ist, Ihnen die Nummer eines Kneipiers zu geben, bei dem Jupp regelmäßig einkehrt, wenn er dort unten ist. Allerdings kann’s ’ne ganze Weile dauern, bis er dort aufkreuzt. Er geht manchmal stunden- und tagelang am Strand spazieren, wenn er seinen Koller hat, und dann kommt er nicht mal zum Essen zurück.«
»Und es gibt auch kein Hotel oder so was, wo ich ihn erreichen oder ihm eine Nachricht hinterlassen könnte?«, erkundigte sich Verhoeven, vollkommen ungläubig angesichts der Formulierung, die Marie Wer-auch-immer gewählt hatte.
Wenn er seinen Koller hat ...
»Nein«, entgegnete seine Gesprächspartnerin mit spürbarem Bedauern. »Er bewohnt diese kleine Fischerhütte, die einem alten Freund von ihm gehört. Aber die hat weder Telefon noch Internetanschluss. Genau genommen hat sie nicht mal eine richtige Adresse. Es ist einfach eine Hütte mitten im Garnichts, verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Verhoeven, auch wenn das Gegenteil der Fall war. »Aber wenn Sie wollen, versuche ich mein Bestes, ihn für Sie zu erreichen.«
»Bitte tun Sie das.« Verhoeven lauschte in den Hörer und wartete darauf, dass seine Gesprächspartnerin sich verabschieden und das Gespräch beenden würde, doch Marie Wer-auch-immer tat nichts dergleichen.
»Winnie steckt in Schwierigkeiten, was?«, fragte sie stattdessen. »Kann man so sagen«, antwortete Verhoeven.
»Gibt’s vielleicht eine Nummer, unter der Jupp sie direkt erreichen kann, falls es mir gelingt, ihn aufzutreiben?«
Gott, ich wünschte, es wäre so, dachte Verhoeven. Laut sagte er: »Ich fürchte nein. Sagen Sie ihm einfach, dass er sich bei mir melden soll. Und zwar bei mir privat. Nicht im Präsidium, okay?«
»Alles klar«, entgegnete sie. Und besorgt fügte sie hinzu: »Winnie ist doch nicht krank oder so?«
»Nein«, sagte Verhoeven und fühlte sich auf eine fast schmerzvoll glückliche Art an das Gespräch mit seiner Frau erinnert, als er hinzufügte: »Krank ist sie nicht.«
»Ich tu, was ich kann«, versicherte Marie Wer-auch-immer ihm abermals.
Dann hängte sie ein.
12
Halt! Stopp! Augenblick!
Da war es wieder, dieses merkwürdige Geräusch!
Winnie Heller ließ von ihren Waden ab und lauschte in die Stille der Grube, doch alles, was sie hörte, waren Evelyns Ferkelschnarcher und ein paar andere regelmäßige Atemzüge. Oder? Nein, da war noch irgendwas anderes. Und dieses Mal konnte sie dem Geräusch endlich auch eine Richtung zuordnen: Es kam aus der Ecke, in der der Toiletteneimer stand ...
Mein Dienstausweis!, schoss es ihr durch den Sinn. Irgendjemand hat mich dabei beobachtet, wie ich ihn versteckt habe. Oder ich habe mich verraten, weil ich allzu oft in diese Richtung geguckt habe. Sie dachte an Quentin Jahn und die Scharfsichtigkeit, mit der er ihrem Blick gefolgt war. Etwas mehr Würde hätten sie uns wirklich lassen können, nicht wahr?
Oder benutzte einfach jemand ihr improvisiertes Klo? Jemand, den sie nicht gehört hatte? Der sich leise bewegte, unauffällig? Jemand, der schon dort gesessen hatte, als sie aufgewacht war?
Winnie Heller spähte angestrengt in das tiefe Dunkel, das ihre provisorische Toilette umgab.
Kauerte dort nicht jemand? Dort, neben dem Eimer? Aber wer? Wer, verdammt noch mal?
Malina , flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, und die Assoziation erschien ihr auf den ersten Blick
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