Schattenriss
ausdrückte, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, ihre Maßregelung von vorhin zu wiederholen.
Doch da flammte am oberen Grubenrand bereits Licht auf.
»Verdammt noch mal, was ist denn da unten los?«
Alpha.
Hinter ihm tauchte Bernds wuchtige Statur auf. Er hielt eine MP im Anschlag, und sein Schatten goss sich über die rückwärtige Wand wie eine Warnung, die auch Jenna zu verstehen schien, denn sie hörte augenblicklich auf zu weinen und klammerte sich stattdessen Schutz suchend an Evelyn, die von dem spontanen Vertrauensbeweis der jungen Bankangestellten nicht gerade begeistert zu sein schien.
»Warum brüllt ihr so rum?«
»Hier unten sind Ratten«, rief Winnie Heller, weil sie es unklug fand, nicht zu antworten. »Es wimmelt nur so von den verdammten Viechern.«
»Ratten? Echt?« Brutalo-Bernd ließ die MP sinken und brach in schallendes Gelächter aus, das von den kahlen Wänden widerhallte. »Scheiße, ist das geil!«
Alpha hingegen war schon halb die Treppe herunter. »Wo kommen die her?«
»Ich weiß nicht genau«, antwortete Winnie Heller. »Da ... Da ist so ein komischer Abfluss im Boden.« Sie zeigte auf die Stelle, die sie ein paar Stunden zuvor untersucht hatte. »Ich bin vorhin drüber gestolpert, als ich ...«
Der Anführer der Geiselnehmer schob sie zur Seite und beleuchtete das Loch mit seiner Taschenlampe, wobei er das lose Gitter mit dem Fuß zur Seite schob. Ganz so, wie sie selbst es vorhin getan hatte. Dann nickte er.
»Und wenn schon«, rief Bernd von oben. »Die Viecher werden euch schon nicht gleich auffressen.«
Doch Winnie Heller ließ sich nicht beirren. »Es sind auch welche da hinten, beim Eimer«, erklärte sie, woraufhin Alpha den Strahl seiner Lampe von dem Loch auf die improvisierte Toilette richtete.
Die plötzliche Helligkeit ließ die grauen Schatten, die noch immer überall in den Nischen und zwischen den Schuttbergen kauerten, in alle Richtungen davonspritzen. Allerdings würden sie sich nicht allzu weit entfernen. Davon war Winnie Heller überzeugt.
»Wahrscheinlich hat der Geruch der Exkremente sie angelockt«, sagte sie, als sie spürte, dass Alpha ihr noch immer zuhörte.
»Na und?«, höhnte Bernd von seinem erhöhten Standort aus. »Dann müsst ihr beim Pissen eben aufpassen, dass sie euch nicht in den Arsch beißen. Was soll’s?!«
»Halt’s Maul«, herrschte Alpha ihn an. »Sie hat recht.«
Selbst unter seiner Maske, die er nun wieder trug, konnte Winnie Heller die Verärgerung des brutalen Geiselnehmers sehen, und sie hatte das ungute Gefühl, dass Bernds Wut sich nicht nur gegen seinen Komplizen, sondern auch und vor allem gegen sie richtete.
Du musst vorsichtig sein, mahnte ihre innere Stimme. Pass bloß auf, dass du dir diesen Kerl nicht zum Feind machst!
Trotzdem sagte sie tapfer: »Könnte man da nicht ... Könnten wir nicht eine andere Lösung finden?«
Die dunklen Augen hinter Alphas Maske wandten sich ihr zu, und zum zweiten Mal, seit sie sich in seiner Gewalt befand, blickte er ihr nun direkt ins Gesicht. Und wie schon zuvor dachte Winnie Heller, dass er Charakter hatte. Eine starke, unbeugsame Persönlichkeit. Und vielleicht sogar etwas wie Mitleid. Sie dachte auch, dass sich ein Geiselnehmer vermutlich tatsächlich desto schwerer tat, jemanden zu erschießen, je mehr persönlichen Kontakt er zuvor mit der betreffenden Person gehabt hatte. Also erwiderte sie Alphas Blick und versuchte dabei, so unerschrocken und offen wie nur eben möglich zu gucken.
»Also gut«, sagte der Wortführer der Geiselnehmer nach kurzem Nachdenken. »Ein Toilettengang pro Tag. Einzeln.«
Sie nickte.
»Mehr gibt’s nicht, ist das klar?«
Dieses Mal nickten auch die anderen.
»Was Sie in der Zwischenzeit machen, ist Ihr Problem.«
Winnie Heller schielte zum Rand der Grube hinauf, doch Bernd hatte sich bereits wieder irgendwohin zurückgezogen.
»Und keine Tricks, verstanden?«, sagte Alpha mit schneidender Schärfe. Dann griff er sich den Eimer und verschwand damit nach oben.
Die Lichter gingen wieder aus, und die alte Schummrigkeit legte sich über die Grube wie ein grauer Schleier.
Jennas Schluchzen verebbte. Und Winnie Heller hatte das merkwürdige Gefühl, zu dieser späten Stunde so etwas wie einen Etappensieg errungen zu haben.
13
Gegen halb vier in der Frühe stand Verhoeven im Wohnzimmer seines Hauses und blickte durch die bodentiefen Terrassenfenster in den Garten hinaus. Seine halbherzigen Versuche, schlafen zu wollen,
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