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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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hatte er bereits vor einer Stunde aufgegeben. Stattdessen hatte er sich angezogen, war ins Erdgeschoss hinuntergegangen und hatte sich einen Tee gemacht. Und anschließend gleich noch einen. Er hatte an das Baby gedacht, das sie haben würden. An das Glück, das ihnen zuteil wurde. Und an Winnie Heller, die irgendwo dort draußen war, in der Hand von Männern, von denen einer bereits zum Mörder geworden war ...
    Er hatte sich ausgemalt, wie auch sie jetzt wach lag. Oder saß. Oder was auch immer. Er hatte versucht, sich ihre Angst vorzustellen, und sich mit der trotzigen Entschlossenheit getröstet, die seine Partnerin immer dann an den Tag legte, wenn es hart auf hart kam. Und die ganze Zeit über hatte er mit seinem schlechten Gewissen gekämpft. Damit, dass er sich in einer Situation wie dieser freuen konnte über das zweite Kind, das er sich so sehr gewünscht hatte. Verhoeven blickte in den Garten hinaus, der so still und erhaben dalag, als sei alles in bester Ordnung, während ihn die emotionalen Temperaturschwankungen der letzten Stunden beinahe um den Verstand brachten. Glück und Unglück, dachte er. So dicht beieinander. Und so unfair verteilt.
    Sein Blick glitt über den Rasen, den er bald wieder würde mähen müssen. Seine Frau hatte am vergangenen Wochenende sämtliche nicht winterharten Stauden aus ihrem Frostschutzquartier im Schuppen geholt und die Töpfe entlang der niedrigen Mauer aufgereiht, die die Terrasse nach Westen hin begrenzte. Es fror schon seit zwei Wochen nicht mehr, nicht einmal mehr nachts, und wahrscheinlich hatte Silvie vollkommen recht, den winterbleichen Pflanzen ab sofort wieder eine ordentliche Portion Frischluft gönnen zu wollen. Und doch musste Verhoeven beim Anblick der Töpfe daran denken, was Anna immer gesagt hatte, wenn es so früh im Jahr derart mild gewesen war.
    Das dicke Ende kommt erst noch ...
    Seine Augen blieben an Silvies geliebter Kamelie hängen, deren Topf als Einziger noch immer mit Zeitungspapier umwickelt war.
    Oh, nein , hatte seine Pflegemutter sich mit ungewohnter Vehemenz zur Wehr gesetzt, wann immer eine der Nachbarinnen sie wegen ihrer übertriebenen Vorsicht in Bezug auf den Garten getadelt hatte, meinen Oleander stelle ich ganz bestimmt noch nicht vor die Tür, und wenn sämtliche Forsythien des Viertels bereits in voller Blüte stehen. Glaub mir, das dicke Ende kommt erst noch. Und es kommt immer genau dann, wenn man denkt, es ist vorbei ...
    Verhoeven merkte, wie sein Bein einzuschlafen drohte, und er verlagerte sein Gewicht eilig auf die andere Seite. Was sie wohl gerade tat, Anna? Ob sie schlief? Oder war auch sie wach, so wie er, und blickte aus dem Fenster ihres ordentlichen kleinen Zimmers direkt in die Sterne? Wartete sie am Ende gar darauf, dass die Nachtschwester kam, um ... Ja, um was zu tun? Um sie zu schikanieren? Zu beschimpfen? Anzuschreien?
    Die Beate von der Nachtschicht kann mich nicht leiden. Obwohl ich ihr schon zweimal was geschenkt habe .
    Verhoeven lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe. Ihm war durchaus klar, wie wenig Chancen seine Pflegemutter hatte, falls es tatsächlich ein Problem gab. Niemand hörte auf das, was Anna sagte. So war es schon immer gewesen, und so war es noch heute. Niemand fragte nach ihr, niemand interessierte sich für das, was sie dachte, fühlte, fürchtete, und noch vor wenigen Stunden hätte Verhoeven diesen Umstand ganz sicher als eine Form von ausgleichender Gerechtigkeit empfunden. Immerhin hatte sich Anna ja auch niemals dafür interessiert, was ihre Schützlinge zu sagen hatten.
    Oder tat er ihr in diesem Punkt unrecht?
    Hatten sie, hatte er, er ganz persönlich, eigentlich je den Versuch unternommen, mit seiner Pflegemutter über Schmitz’ Ausraster zu sprechen? Hatte er jemals Annas Hilfe gesucht? Oder hatte er in seinem kindlichen Trotz und seiner rigorosen Ablehnungshaltung gegen alles, was mit seinem aufgezwungenen neuen Zuhause zu tun hatte, ganz einfach vorausgesetzt, dass sie ihm sowieso nicht helfen würde?
    Er überlegte fieberhaft, aber er konnte es beim besten Willen nicht sagen. Überhaupt schien so vieles in der letzten Zeit aus seinem Gedächtnis zu verschwinden, obwohl er immer sicher gewesen war, dass es sich dort bis ans Ende aller Tage festgebrannt hatte. Dennoch verschwand es. Und so sehr er sich auch bemühte, es wollte ihm einfach nicht gelingen, die unaufhaltsam verblassenden Bilder aus seiner Kindheit wieder scharf zu stellen.
    Was ist das?, überlegte er, während

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