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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Abendessen genossen, und niemals zuvor waren das Haus und der Garten in einem so tadellosen Zustand gewesen. Und jetzt eröffnete Silvie ihm völlig zusammenhanglos, dass kein Kaffee mehr im Haus sei ...
    War das nicht ...?
    »Ich kaufe gleich morgen früh welchen«, erklärte seine Frau im selben Augenblick.
    »Gut«, sagte Verhoeven. »Dann frühstücke ich unterwegs. Ich muss ohnehin früh raus.«
    Silvie nickte.
    Da ist noch etwas anderes, dachte er alarmiert. Etwas, das nur bedingt mit Kaffee zu tun hat. Tut mir leid, aber ich bin einfach nicht mehr dazu gekommen ...
    »Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass du nicht zum Einkaufen gekommen bist?«, fragte er, und er konnte sehen, dass er die richtige Frage gestellt hatte. Doch noch zögerte seine Frau. Vielleicht, weil ihr der Zeitpunkt für das, was sie zu sagen hatte, ungeeignet erschien.
    Aber schließlich fasste sie sich doch ein Herz und sagte: »Ich bin heute Nachmittag beim Arzt gewesen.«
    Verhoeven spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er war erst acht gewesen, damals, aber er erinnerte sich genau daran, dass seine Mutter annähernd die gleichen Worte verwendet hatte. Hör mal zu, Hendrik, ich bin heute beim Arzt gewesen, weißt du, und der Arzt hat gesagt, dass ich ...
    Er schob die schmerzvolle Erinnerung an den Beginn ihres langen Abschiednehmens beiseite und sah wieder seine Frau an. Die Frau, die er mehr liebte als jeden anderen Menschen zuvor.
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte er mit einer Stimme, die irgendwie zu klirren schien. »Bist du ... krank?«
    Doch zu seiner Überraschung breitete sich ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht. »Nein«, sagte sie leise. »Krank bin ich nicht ...«
     
     
     

10
     
    Winnie Heller erwachte von einem Geräusch, das sie nicht einordnen konnte.
    Eigentlich hatte sie gar nicht schlafen wollen, aber irgendwann war sie dann doch einfach eingenickt. In einer unbequemen, halbsitzenden Position war sie in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen, und nun, da sie wach war, wurde ihr bewusst, dass sie von Wien geträumt hatte. Von dem Bestattungsmuseum, das Lübke ihr noch vor wenigen Stunden als eines der absoluten Highlights der Donaustadt gepriesen hatte, um sie auf diese Weise vielleicht doch noch dazu zu bringen, ihn zu seinem Kriminologenkongress Ende Mai zu begleiten.
    Es gebe in diesem Museum sogar Klappsärge, hatte der Leiter der erkennungsdienstlichen Abteilung ihr mit seinem typischen kollernden Lachen erklärt. Mit speziellen Mechanismen versehene Holzkisten seien das. Kisten, die sich immer wieder und wieder verwenden ließen. Da packst du den Leichensack rein, segnest einmal kurz drüber, machst die Klappe auf und fertig . Winnie Heller schloss die Augen und hörte Lübkes vergnügtes Kichern. Das ist es, was ich unter vernünftigem Recycling verstehe. Ich meine, so ’n halbes Kiefernwäldchen für jeden Toten, das ist doch eigentlich die pure Verschwendung, oder? Wo das Zeug hinterher doch sowieso bloß verrottet ...
    Die Erinnerung entlockte Winnie Heller selbst jetzt, in dieser wahrhaft nicht gerade angenehmen Situation, ein Schmunzeln, und sie wünschte sich mit einem Mal nichts sehnlicher, als dass sie Lübke anrufen und mit ihm reden könnte. Zugleich hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass sie ihn derart angebrüllt und anschließend einfach aufgelegt hatte.
    »So trennt man sich nicht«, hatte ihre geliebte Großmutter oft geschimpft, wenn ihr Opa wieder einmal im Streit das Haus verlassen wollte. »Was, wenn dir unterwegs irgendetwas passiert?«
    »Was um Himmels willen sollte mir denn passieren?«, hatte sich Gustav Heller in solchen Momenten dann echauffiert, doch seine Frau hatte immer darauf bestanden, dass sie zuerst alle Unstimmigkeiten ausräumten.
    »Die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst«, hatte sie oft aus einem Gedicht von Ferdinand Freiligrath zitiert, das ihr besonders gefallen hatte, und notfalls hatte sie ihrem Mann diese Zeilen die halbe Straße hinunter nachgebrüllt, woraufhin der stolze Gustav in der Regel eingelenkt und seiner Frau einen dicken Versöhnungskuss auf die Wange gedrückt hatte. Schon allein, um die Nachbarn zu beruhigen.
    Nur ein einziges Mal hatte er sich verweigert und war tatsächlich gegangen. Ohne Versöhnung. Und ohne Abschiedskuss. Winnie Heller zupfte sich nachdenklich die Ärmel ihrer Jacke über die ausgekühlten Handgelenke. Sie wusste, dass ihre Großmutter daraufhin drei Wochen lang nicht mit ihrem

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