Schattenriss
vollkommen zusammenhanglos. Trotzdem rasteten ihre Gedanken augenblicklich wieder bei dem Thema ein. Die Entführer hatten Kontakt zu einer Person gesucht, die Malina hieß oder so genannt wurde. Und sie hatten die betreffende Person in der Bank vermutet. Also war sie aller Wahrscheinlichkeit nach dort angestellt, oder es handelte sich um jemanden, der regelmäßig kam. Immer zur gleichen Zeit ...
Ich zahle am Abend immer einen Großteil der Tageseinnahmen auf unser Konto ein.
Winnie Hellers Augen glitten zur Schmalseite der Grube, dorthin, wo die männlichen Geiseln ihre Schlafstatt eingerichtet hatten. Horst Abreschs Schatten war gerade noch auszumachen, weil er am nächsten bei der Matratze lag und somit auch am meisten von dem fahlen Licht abbekam, das sich über den Rand der Grube auf die rückwärtige Wand goss. Aber dieser Schatten lag ruhig und unbewegt wie ein ausgestopfter Sandsack. Rechts von ihm allerdings schien sich plötzlich etwas zu rühren.
Die Bewegung war kaum wahrnehmbar, weil die Person, die sie auslöste, sich alle Mühe gab, so leise wie irgend möglich zu sein. Und so war Winnie Heller sich erst sicher, als die gebückte Silhouette bereits ein paar Schritte in den Raum hinein gemacht hatte: Jussuf Mousa. Doch das Geräusch, das sie gehört hatte, war definitiv aus der anderen Richtung gekommen! Mit angehaltenem Atem verfolgte Winnie Heller, wie der kleine Araber mit unsicheren Schritten auf den Toiletteneimer zuwankte. Und wenn dort tatsächlich jemand war, musste Mousa ihn jeden Augenblick sehen können ...
Oh Mann, dachte Winnie Heller, jetzt bin ich aber gespannt!
Jussuf Mousas Schritte wurden noch langsamer, weil sich das Dunkel der Grube Richtung Eimer vertiefte. Aber er blieb nicht stehen.
Aus den Augenwinkeln konnte Winnie Heller gerade noch sehen, wie er nach dem Reißverschluss seiner Hose tastete, und automatisch musste sie wieder an Bernd, den Sadisten, denken. Dann hatte die Finsternis den kleinen Mann mit dem dunklen Teint verschluckt.
Winnie Heller wartete auf das charakteristische Plätschergeräusch, doch stattdessen hörte sie etwas anderes. Etwas, das aus derselben Richtung kam, in die der Araber verschwunden war. Etwas, das ... Ja, verdammt! Etwas, das über den Boden huschte! Sie hörte Jussuf Mousa erschreckt nach Luft schnappen, dann manifestierte sich aus dem ihn umgebenden Dunkel urplötzlich eine Reihe von Schatten. Winzige, huschende Gebilde, die dem schummrigen Raum eine plötzliche Dynamik verliehen.
Ratten, dachte Winnie Heller und zog voller Ekel die Beine an den Körper, während der Raum geradewegs auf sie zuzukommen schien. Es war ein Gefühl wie in einem dieser rollenden Fässer, die es früher auf Jahrmärkten gegeben hatte. Das Gefühl, ohne jedes Gleichgewicht zu sein. Den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Die Tiere waren nicht besonders groß, aber es waren verdammt viele. Sie purzelten übereinander, während sie suchend über den unebenen Untergrund wieselten. Und es mussten Dutzende sein. Nein, Aberdutzende.
Im selben Moment begann Jenna zu kreischen. Schrill und offenbar auch vollkommen unkontrolliert.
»Was ist?«, fragte jemand. Evelyn Gorlow.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Quentin Jahn verschlafen. Jussuf Mousa rief etwas in einer Sprache, die Winnie Heller nicht verstand, aber es klang wie ein Fluch.
»Scheiße!«, schrie nun auch Evelyn.
Neben ihr sprang Jenna auf die Füße und hüpfte hysterisch schreiend über den unebenen Boden.
Winnie Heller sah, wie einer ihrer Pumps dabei einen Absatz einbüßte, doch das schien die junge Bankangestellte nicht einmal zu bemerken. Sie schrie einfach weiter und vollführte ihren irrwitzigen Tanz auf dem sandigen Untergrund, während auch der Letzte unter ihnen allmählich mitbekommen hatte, was Sache war.
Evelyn riss sich den Parka vom Leib, den sie zum Schlafen wieder angezogen hatte, und hieb damit wie eine Furie auf den Boden rings um ihre Matratze ein. Quentin hingegen stampfte ein paar Mal kurz und entschlossen mit dem Fuß, was voll und ganz ausreichte, um die scheuen Tiere in die Flucht zu schlagen. Winnie beobachtete, wie sie auseinanderstoben und flink in den schattigen Zonen entlang der Wände verschwanden.
Trotzdem hörte Jenna nicht auf zu schreien.
Halt den Mund, Jenna , hörte Winnie Heller eine imaginäre Iris Kuhn zischen, und sie dachte, dass eine simple Ohrfeige das Problem dieses Mal aller Voraussicht nach nicht lösen würde, auch wenn Evelyns Miene deutlich
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