Schattenriss
trotzdem als solchen und leidet um ihn, was ihr recht geschieht, schon allein um all des Westkaffees willen, den sie andauernd in sich hineinschüttet), jedenfalls fährt Toni Fahrrad und singt dabei, aber er singt kein Parteilied, sondern irgendeinen ziemlich unerwünschten Popsong, der ihn ihr noch sympathischer macht, auch wenn sie kein Wort versteht.
Sie merkt, dass sie lächelt, und ärgert sich im gleichen Atemzug, weil sie schon wieder vergessen hat, weswegen. WESWEGEN LÄCHLE ICH?
Sie malt die Frage, die ihr auf den Nägeln brennt, in Großbuchstaben vor sich auf den Tisch, während sich ihr Gedächtnis vergebens darum bemüht, die Bilder zurückzurufen, die sie ja wohl irgendwie gefreut haben müssen. Sonst würde sie wohl kaum lächeln, nicht wahr?
Also WESWEGEN ...
Fragen sind wichtig, denkt sie, während ihr Finger ein zweites Fragezeichen direkt hinter das erste malt. Sogar dann, wenn man die Antwort nicht findet. Man darf nie aufhören, sich Fragen zu stellen, das ist etwas, das sie mit Sicherheit weiß, auch wenn sie sich schon eine ganze Weile nicht mehr daran erinnern kann, warum sie so denkt. Aber sie ist überzeugt, dass jemand allein aufgrund von nicht gestellten Fragen verrückt werden könnte. Wenn es genug wären ...
»Gibt’s ein Problem?«
Sie wischt eilends die Frage beiseite und blickt wieder hoch. Die Gisela, sieh an! Eine von den Übereifrigen. Planziel. Gruppensoll. So was gelte auch für Verrückte und so weiter und so fort. Eigentlich ein Absurdum.
Sie lächelt wieder, anders diesmal.
»Was grinst du denn so blöd?«
Oh, gleich zwei Fragen auf einmal, denkt sie, heut ist ja direkt mein Glückstag! »Alles in Ordnung.«
»Und warum arbeitest du dann nicht?«
Nummer drei?! Na, das grenzt doch beinahe schon an Verschwendung! Gibt’s denn Fragen heut mal vorrätig? Dann aber zugreifen, was?! Beeilung, Beeilung, meine Herrschaften, in weniger als einer halben Stunde sind sie garantiert aus, die Fragen. Also kommen Sie und stellen Sie sich hinten an und warten Sie einfach auf das, was noch übrig ist, wenn Sie endlich an die Reihe kommen!
Noch immer vergnügt zieht sie unter Giselas Augen einen neuen beigen Plastikreißverschluss aus dem Kasten neben der Nähmaschine. Zwei von dreien funktionieren schon nach einem einzigen Tag nicht mehr richtig, aber was macht das schon? Immerhin wirkt sie auf diese Weise ein bisschen beschäftigter.
Seltsam nur, dass Planziel-Gisela trotzdem nicht geht.
Sie blickt zum dritten Mal an diesem Morgen auf und stellt verwundert fest, dass sie nicht mehr allein sind, Gisela und sie. Das heißt, allein sind sie ja eigentlich nie gewesen, mit all diesen nähenden Verrückten um sie herum, aber jetzt sind da auf einmal andere Leute, also Menschen, die dort gewissermaßen gar nicht hingehören, Überraschungsgäste oder so was in der Richtung. Zwei Herren und eine Dame. Nein, denkt sie, nachdem sie ein wenig genauer hingesehen hat, wohl doch eher eine Frau. Jedenfalls Fremde, die Planziel-Gisela beiseitegenommen haben. Sie reden auf sie ein, und Gisela nickt, und dann geht einer von den Herren wieder weg und der andere tritt nach vorne unter das Porträt von Erich Honecker, das heute anscheinend Ausgang hat, also unter den Nagel, der noch übrig ist, und dann sagt er etwas. Der Herr, wohlgemerkt, nicht Erich Honecker.
»... und wie einige von Ihnen vielleicht bereits gehört haben ...«
Sie versucht, den Ton lauter zu stellen, aber es will ihr nicht gelingen. Also bemüht sie sich wenigstens, interessiert auszusehen, damit sie nicht unangenehm auffällt. Unauffälligkeit, davon ist sie überzeugt, ist das Einzige, was einen retten kann. Vielleicht retten. Oder auch nicht. Aber was soll’s?
»... werden das natürlich so schnell wie möglich im Einzelfall prüfen und ...«
Aha, was auch immer ...
»... möchte ich Ihnen darüber hinaus versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um die bestmögliche Lösung für Sie alle ...«
Sollte man da nicht klatschen? So wie früher im Konzert? Nein, pssst, raunt ihre Mutter, die gar nicht hier ist, nicht jetzt, jetzt ist die falsche Stelle, weil der Mann am Klavier eine Sonate spielt, und bei einer Sonate klatscht man erst am Ende und nicht nach jedem Satz, denn wenn man das tut, also nach jedem Satz klatschen, dann merken die Leute, dass man eine Banausin ist, und das sollen sie nicht, jedenfalls nicht so direkt. Als ihre Mutter das flüstert, ist sie sieben, daran erinnert sie sich
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