Schattenriss
vorüber.
Verhoeven wartete, bis die letzten Schatten der Vögel hinter den sanften Hügeln des Taunus verschwunden waren. Dann ging er quer über den ungemähten Rasen zu jenem Teich hinüber, dessen Erbauung seine ohnehin nicht gerade überragenden handwerklichen Fähigkeiten bis an ihre Grenzen und weit darüber hinaus geführt hatte. Und der ohne die tatkräftige Mithilfe seiner Kollegen wahrscheinlich noch in fünfzig Jahren ein steiniges Loch ohne Struktur gewesen sein würde.
Bald ist wieder schönes Wetter, und dann musst du unbedingt vorbeikommen und dir meine Goldfische ansehen. Es gibt auch ganz leckeren Zitronentee, wenn du welchen trinken darfst , versprach eine imaginäre Nina einer imaginären Winnie Heller.
Verhoeven blickte auf die dunkle Wasserfläche hinunter.
Wo bist du?, dachte er, und erst mit ein paar Sekunden Verzögerung wurde ihm klar, dass die unausgesprochene Frage an seine Partnerin gerichtet gewesen war. Und das, obwohl sie einander noch immer mit konstanter Bosheit siezten und vermutlich noch bis zum Sankt Nimmerleinstag siezen würden. Wohin, um alles in der Welt, haben diese Leute dich verschleppt? Dich und die anderen?
Und was können wir tun, um euch unbeschadet dort rauszuholen?
IV
Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!
Joseph Freiherr
von Eichendorff, »Zwielicht«
Psychiatrische Klinik Storkow bei Berlin, Oktober 1989
Seit einiger Zeit trägt sie diesen Ring, den sie selbst gemacht hat. Er ist ganz schlicht, aus einem winzigen Stück Stoff mit Dutzenden von mikrofeinen Stichen zusammengenäht. Von Hand natürlich, denn die Maschinen können nur braunbeiges Plastik. Ein Stück von ihrem Unterhemd hat sie dafür geopfert, eins von den wenigen Kleidungsstücken, die sie ihr gelassen haben. Der Rest ihrer Sachen ist irgendwohin verschwunden, aber das weiß sie eigentlich schon fast gar nicht mehr. Und es scheint ihr auch irgendwie angemessen, dass sie es nicht mehr weiß. Nicht tragisch jedenfalls. Zumindest nicht auf den ersten Blick ...
Sie sieht kurz hoch, als die Schichtleiterin ihr einen neuen Packen frisch zugeschnittener Kulturbeutelteile auf den Tisch knallt. Dann schaut sie wieder auf ihre Nähmaschine hinunter und beobachtet ihre Hand, die das steife Kulturbeutelplastik mit geübter Routine über die Stichplatte führt. Der Ring, den sie notgedrungen am linken Mittelfinger trägt, weil er ein bisschen zu groß ausgefallen ist, ersetzt die Träume, die sie verloren haben muss, irgendwo zwischen den Kulturbeuteln. Und das, obwohl sie noch immer jeden Abend und jeden Morgen mit dem Medikamentenbrett in ihrem Türrahmen stehen.
Erstaunlich eigentlich, denkt sie.
Trotzdem träumt sie nicht mehr. Die Zeitungsverwesungsträume sind ihr abhanden gekommen. Genau wie der ramponierte Boxer und der hellblaue Strampelanzug. Nicht, dass sie großen Wert darauf gelegt hätte (Wer legt denn schon Wert auf Alpträume?), aber irgendwie bereitet ihr die Entwicklung doch Sorgen, vor allem, weil es eben nicht nur die Alpträume sind, die ihr abhandenkommen, so wie ihre Möbel und Kleider und all das andere Zeug, an das sie sich zum Glück nur noch schemenhaft erinnert. Es sind auch die anderen, die guten, die wichtigen Träume. Die Tagwachträume, die, in denen der junge Mann, den sie seit einiger Zeit schlicht Toni nennt, nach Tschechow, ihrem Lieblingsdichter, in denen also Toni auf einem rostigen roten Jungenfahrrad in rasendem Galopp über ein sozialistisches Stoppelfeld brettert. Sein weiches schwarzes Haar ... Oder ist es ...? Nein, denkt sie, schwarz ganz sicher, auch wenn Ingeborg Wenzel behauptet, das bedeute gar nichts, weil alle Babys bei der Geburt schwarze Haare hätten, schwarze oder gar keine, und doch ist sie felsenfest überzeugt, dass er immer noch schwarze Haare hat. Eine Mutter weiß so etwas, da braucht sie ihr Kind eigentlich gar nicht gesehen haben ... Also Tonis schwarzes Haar weht im Wind (es ist natürlich ein ganzes Stück zu lang, wie heutzutage üblich, wenn man ein bisschen revolutionär veranlagt ist, aber sie hat einer solchen Banalität wegen auch nie schimpfen wollen, nicht mal im Traum, ganz im Gegensatz zu Frau Huber selbstverständlich, die die Umtriebe ihres Sohnes schon lange nicht mehr versteht, auch wenn er gar nicht ihr Sohn ist, also Frau Hubers Sohn, eigentlich, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund empfindet sie ihn
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