Schattenriss
seine Stirn allmählich taub wurde von der Kühle des Fensterglases. Das Alter? Die Zeit, die angeblich alle Wunden heilt, die sich unaufhaltsam zwischen ihn und seine Traumata schob und ihn von der schlimmsten Zeit seines Lebens entfernte?
Sucht den Herd auf der Toilette ...
Aber wie konnte es möglich sein, dass selbst Schmerzen von einem solchen Ausmaß, wie er sie damals empfunden hatte, irgendwann blasser wurden? Noch dazu ohne konkreten Anlass? Ohne Versöhnung, ohne Aufarbeitung, ohne dass etwas geschehen wäre, das die Milderung rechtfertigte?
Verhoeven nahm den Kopf zurück und sah hinauf in die Sterne, die an diesem Abend so groß und nah wirkten, dass er beinahe das Gefühl hatte, danach greifen zu können. War es nicht eigentlich ein unverzeihliches Versäumnis, die eigenen Schmerzen zu vergessen? Musste man nicht, im Gegenteil, dafür sorgen, dass die Erinnerung an das Grauen lebendig blieb? Er öffnete die Terrassentür, weil er plötzlich das Gefühl hatte, Luft zu brauchen. Frische und Klarheit. Etwas, das die Dinge wieder ins Gleichgewicht rückte. Das Schöne zu vergessen, dachte er, ist ja vielleicht gerade noch entschuldbar. Aber Prügel? Misshandlungen? Unrecht?
Er schob die Hände in die Hosentaschen und trat auf die Terrasse hinaus.
Jetzt, mitten in der Nacht, war die Luft klirrend kühl und umflutete seinen zimmerwarmen Körper wie eine Woge eisigen Wassers. Verhoeven hielt fröstelnd den Atem an, als ihm plötzlich einfiel, dass irgendein Nachrichtensprecher an einem der vergangenen Tage behauptet hatte, der Frühling beginne grundsätzlich im Februar irgendwo in Portugal und arbeite sich von dort innerhalb von drei Monaten bis nach Skandinavien vor. Und das alles mit einer Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern, ein Tempo, das er – zumindest in diesem Zusammenhang – geradezu atemberaubend fand.
Soweit ich gehört habe, soll es mild und windig bleiben , hörte er im Geiste wieder den uniformierten Beamten aus Hubert Jüssens Team sagen.
Oh, nein , widersprach ihm eine imaginäre Anna, das dicke Ende kommt erst noch . Verlassen Sie sich darauf!
Verhoeven warf einen Blick auf das Thermometer, das an der Hauswand angebracht war und dessen komfortabel beleuchtetes Digitaldisplay man auch in der Dunkelheit mühelos ablesen konnte, und er stellte beunruhigt fest, dass die Temperatur in den vergangenen Stunden tatsächlich um satte acht Grad gefallen war. Unschlüssig machte er ein paar Schritte auf Silvies Blumentöpfe zu. Auf die Stauden, die erfrieren würden, wenn Anna recht behielt und es doch noch einmal kalt wurde. Er ging in die Knie und wollte gerade ein Stück loses Zeitungspapier hinter Silvies Kamelientopf schieben, als er ein Geräusch hörte, das er zunächst nicht einordnen konnte. Nur, dass es von oben kam, daran bestand kein Zweifel.
Er legte den Kopf in den Nacken und starrte angestrengt in den pechschwarzen Nachthimmel hinauf, doch zunächst sah er nichts als die Sterne, die in dieser Nacht in seltener Klarheit über dem Rheintal standen. Aber dann, auf einmal, nahm er auch eine Reihe von Schatten wahr, fliehend graue Silhouetten, auf die von irgendwoher ein Anklang von Licht fiel.
Zugvögel, dachte Verhoeven, und die Erkenntnis erfüllte ihn mit demselben überwältigenden Glücksgefühl wie die Nachricht, dass Silvie und er zum zweiten Mal Eltern wurden. Ein Glücksgefühl freilich, in das sich bereits nach wenigen Sekunden ein leiser Schmerz mischte. Schnell sah Verhoeven wieder nach oben.
Die Tiere kamen von Süden, und es mussten Hunderte sein. Möglicherweise gar Tausende. Gänse vielleicht. Oder Wildenten. Ihre gutturalen Schreie erfüllten die Vorstadtstraßennacht mit immer eindringlicher werdenden Sehnsuchtsklängen, und Verhoeven dachte, dass er sich unter Garantie erkälten würde, wenn er noch länger nur mit einem dünnen Sakko bekleidet in der klirrenden Kälte stand. Trotzdem konnte er sich einfach nicht überwinden, ins Haus zurückzukehren.
Reglos, fast andächtig stand er da und sah den Schatten der Vögel entgegen, die in zwei staunenswert präzisen Formationen die Schwärze durchglitten. Sie sind zurück, dachte er, und fast hatte er das Gefühl, er müsse schreien vor Erleichterung über diesen kurzen magischen Moment, in dem alles Grauen so unendlich weit fort schien.
Ein Huhn gehört an die Luft , plapperte Anna in seinem Kopf, sonst schmeckt sogar noch das Ei nach Metall .
Nach einigen Minuten war das Schauspiel
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