Schattenriss
Schultern. »Warum sagen Sie mir nicht endlich, was Sie von mir wollen?«
»Ich möchte, dass Sie die Augen offen halten«, entgegnete Brennicke, den die provokante Rückfrage vollkommen kaltzulassen schien. »Und dass Sie eingreifen, wenn es nötig werden sollte.«
Er glaubt, dass er mich besser im Griff hätte, dachte Verhoeven, während er zugleich über die Frage nachdachte, warum Werner Brennicke ihm noch nicht mit negativen Auswirkungen auf seine Karriere gedroht hatte, falls er sich weigern sollte, Richard Goldstein in den Rücken zu fallen. Die Beamtin war noch nicht über den Hof, da haben sie in der Einsatzzentrale bereits über eine Meuterei nachgedacht. Oder sonst eine Möglichkeit, Goldstein den Fall zu entziehen.
Brennicke schob den Kopf vor. Offenbar dauerte ihm die Sache allmählich zu lange. »Es ist Ihnen doch bewusst, dass die Gesamtleitung des Einsatzes bei mir liegt, nicht wahr?«
»Sicher.«
»Und ich autorisiere Sie hiermit ausdrücklich, im Fall eines ...«
Weiter kam er nicht, denn in Verhoevens Rücken flog die Tür zum Wohnzimmer der Liesons auf, und Richard Goldstein streckte den Kopf heraus.
»Es gibt vielversprechende Neuigkeiten«, verkündete er, indem er zielstrebig auf Verhoeven zusteuerte. »Eine Bankangestellte, die derzeit in Elternzeit ist, hat den Kollegen gegenüber angegeben, den Namen Malina schon mal gehört zu haben.«
»Wo?«
»In der Filiale, in der sie arbeitet.«
Verhoeven fühlte, wie ihm ein leiser Schauer über den Rücken lief.
»Fahren Sie hin und unterhalten Sie sich mit der Frau«, sagte Goldstein, der äußerlich vollkommen gelassen wirkte. »Hier ist die Adresse.« Er drückte Verhoeven einen achtlos aus einem Notizheft gerissenen Zettel in die Hand. Dann suchten seine Adleraugen Werner Brennicke. »Ich meine natürlich, falls das BKA nichts dagegen hat, dass wir unsere Arbeit tun.«
Brennicke verzog seine Lippen zu einem Lächeln, das bei aller Sparsamkeit trotzdem irgendwie zufrieden wirkte. »Durchaus nicht.«
Verhoeven warf einen kurzen Blick auf den Zettel, den der Unterhändler ihm gegeben hatte, und wandte sich dann zum Gehen.
»Wir sprechen später weiter«, rief Brennicke ihm nach, und es klang beinahe wie eine Drohung.
9
Nachdem sie alle Spinde wieder sorgfältig verschlossen hatte, wandte sich Winnie Heller eher routiniert als erwartungsfroh dem rostigen Rollcontainer zu. Er verfügte über sechs Schubladen, alle mit einem Einschub für Beschriftungen an der Vorderseite. Doch lediglich in zweien von ihnen steckte tatsächlich noch ein Zettel. »Sch-Z« stand auf der untersten Schublade, auf der dritten von oben stand: »Matrizen«.
Jahreszahlen hätten mir mehr geholfen, dachte Winnie Heller. Daran hätte sich vielleicht ablesen lassen, wie lange dieses Drecksloch von einem Gebäude schon leer steht!
Sie blickte sich nach Quentin um, der mit dem Reißverschluss der Tasche kämpfte, die er untersucht hatte. Dann zog sie die Schublade über den »MATRIZEN« auf. Was sie dort fand, raubte ihr für ein paar Sekundenbruchteile buchstäblich den Atem: Zwischen den dicken Staubflocken, die sich in den Ecken der Lade gesammelt hatten, lag ein Wadenhalfter, wie es auch Polizisten zur unauffälligen Unterbringung einer Zweitwaffe benutzten. Und daneben ... Winnie Heller schluckte. Daneben lag eine Pistole.
Überleg nicht lange, nimm sie!, war ihr erster Gedanke.
Und der zweite: Was, wenn sie dich mit dem Ding erwischen? Dann bringst du nicht nur dich selbst, sondern auch alle anderen in tödliche Gefahr!
Aber sind wir das nicht sowieso, in Gefahr?, widersprach sie sich selbst, indem sie sich Bernds Schuhe in Erinnerung rief. Die fast penible Ordnung, die Iris Kuhns Mörder hielt. Und die Präzision, mit der er tötete. Mindestens einer von diesen Kerlen ist ein Psychopath, dachte Winnie Heller. Und wer konnte voraussagen, wie die drei anderen reagierten, wenn sich die Sache erst einmal so richtig hochschaukelte? Wenn der Druck größer und die Zeit knapper wurde oder wenn irgendwann vielleicht sogar ein Spezialeinsatzkommando vor der Tür stand und mit der Erstürmung des Gebäudes drohte?
Sie schaute sich abermals nach Quentin Jahn um, doch der schien nichts von ihrem Fund mitbekommen zu haben, sondern mühte sich nach wie vor mit dem Reißverschluss ab. Was als Nächstes geschah, kam Winnie Heller seltsam zäh und dabei zugleich auch extrem irreal vor. So als ob sie eine Handbreit über sich selbst schwebe und ihr
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