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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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unzweifelhaft von demselben tiefen Braun waren wie die ihres Sohnes. »Nein«, sagte sie dann. »Nennen ist, glaube ich, das falsche Wort dafür. Obwohl es keineswegs besonders laut gewesen ist.« Britta Karlstadt blickte Verhoeven an, und er konnte sehen, dass sie mit den unausgegorenen Erinnerungsfetzen, die ihr Gedächtnis ihr anbot, alles andere als zufrieden war. »Ich habe mich dann umgedreht«, fuhr sie nach einem Moment des Nachdenkens fort, »also muss ich ihr wohl vorher den Rücken zugewandt haben, und ...« Sie hielt abermals inne, und ein Hauch von Verärgerung glitt über ihre mädchenhaft weichen Züge.
    »Ihr?«, hakte Verhoeven nach, als er sah, dass sie allein nicht weiter kam.
    »Ja, es war eine Frau«, nickte Britta Karlstadt sichtlich dankbar. »Eine ältere Dame.«
    »Wie alt?«
    »Nun ...« Sie überlegte. »Vielleicht Ende sechzig. Oder Anfang siebzig.«
    Ist das alt?, dachte Verhoeven. Und weiter: Grovius wäre jetzt Ende sechzig.
    »Sie war echt schwer zu schätzen«, erklärte die junge Mutter in diesem Augenblick, und es klang ein bisschen wie eine Rechtfertigung. »Weil sie ... Na ja, sie hatte irgendwas Zeitloses, verstehen Sie?«
    Er nickte, weil er wusste, was sie meinte.
    »Ich meine, sie hätte natürlich auch jünger gewesen sein können. Aber ihr ganzes Auftreten und so ...« Britta Karlstadt blickte auf die fleckige Tischplatte hinunter. »Doch«, sagte sie dann wie zu sich selbst, »ich würde annehmen, dass sie mindestens Mitte sechzig war. Es sei denn ...«
    »Was?«
    »Na ja, wenn sie vielleicht krank gewesen ist ...«
    Diese Frau ist eine ausgezeichnete Zeugin, dachte Verhoeven anerkennend. Jemand, der sich und die eigenen Eindrücke hinter fragt, ohne in der Sache selbst unsicher zu werden.
    »Was genau meinen Sie mit krank?«, fragte er mit einem aufmunternden Lächeln.
    »Ich weiß nicht genau, aber die Frau wirkte irgendwie ... verwirrt.« Britta Karlstadt ließ sich den Begriff, den sie gewählt hatte, einen Moment lang durch den Kopf gehen, bevor sie bekräftigend mit dem Kopf nickte. »Ja, ich würde sagen, sie war definitiv verwirrt.«
    »Sie meinen geisteskrank?«
    »Ich kenne mich wirklich überhaupt nicht aus mit so was«, sagte die junge Mutter, als ob sie sich explizit für dieses Versäumnis entschuldigen müsse. »Aber vielleicht hatte sie Alzheimer.«
    »Und es war jemand, den Sie nicht kannten?«
    Britta Karlstadt schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ich kannte sie ganz bestimmt nicht.«
    »Haben Sie ein gutes Gedächtnis für Gesichter?«
    Wiederum antwortete die junge Mutter nicht sofort, aber als sie schließlich »Ja, ich denke schon« sagte, hatte Verhoeven nicht den Hauch eines Zweifels, dass diese Aussage der Wahrheit entsprach.
    »Wie lange ist das jetzt ungefähr her?«, fragte er.
    »Fünf bis sechs Monate, schätze ich. Ich war damals schon hochschwanger.«
    Verhoeven betrachtete den Säugling in ihrem Arm. Er schätzte, dass das Baby etwa drei Monate alt war. »Fünf bis sechs Monate, hm?« Er schloss die Augen, während er zurückrechnete. »Das heißt also, es war Herbst. September oder Oktober.«
    Britta Karlstadt bejahte. »Das kommt hin. Und rein vom Gefühl her würde ich eher Oktober sagen.«
    »Aber Sie erinnern sich nicht zufällig noch daran, was die Frau wollte, oder?« Verhoeven blickte die Bankangestellte über den Tisch hinweg an. Er hegte wenig Hoffnung, dass sie seine Frage würde beantworten können, denn immerhin lag die ganze Sache nun schon beinahe ein halbes Jahr zurück. Und in diesem halben Jahr war ganz offenkundig einiges passiert in Britta Karlstadts Leben. Seine Augen streiften den Säugling, der sich noch immer selig schlummernd in ihren Arm kuschelte.
    Doch zumindest was die Sache mit dem Erinnern betraf, lag er falsch.
    »Die Frau hat Geld geholt«, antwortete Britta Karlstadt ohne einen Anflug von Unsicherheit in der Stimme, und obwohl Verhoeven inzwischen von der Qualität ihrer Aussagen restlos überzeugt war, fragte er sich, wie die junge Mutter im Angesicht der vielen Kunden, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte, derart sicher sein konnte.
    Sie schien es zu merken und lächelte. »Kurz bevor sie wieder gegangen ist, hat sie ihre Brieftasche fallen lassen«, erklärte sie, indem sie den Säugling vorsichtig auf die andere Seite nahm und anschließend mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren rechten Arm ausschüttelte. »Ich weiß noch, dass ich ihr beim Aufsammeln geholfen habe.« Die schönen braunen Augen

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