Schattenriss
ich.«
»Eigentlich?«
»Es gibt nichts, das nicht stimmen würde. Zumindest rein äußerlich betrachtet.« Inger Lieson sah wieder auf den Boden hinunter, aber der Ausdruck ihres Gesichts hatte sich in den letzten Sekunden verändert. Das Ergebnis war, dass die Bankiersgattin mit einem Mal alles andere als ätherisch wirkte. Im Gegenteil. Zum ersten Mal überhaupt schien sie tatsächlich anwesend zu sein.
Verhoeven beobachtete die Veränderung mit Interesse. »Aber etwas läuft dennoch falsch?«, hakte er nach, als er merkte, dass sie zögerte.
»Es liegt an mir.« Sie riss den Blick vom Boden los und sah ihn an. »Hatten Sie jemals in Ihrem Leben das Gefühl, zu verblassen?«
Verhoeven ließ diese merkwürdige Frage ein paar Sekunden auf sich wirken, bevor er langsam und nachdrücklich nickte. »Ja«, sagte er. »Ich glaube schon.«
»Bei welcher Gelegenheit?«
»Meine Mutter starb, als ich acht war.«
Inger Lieson sagte nichts. Zeigte kein Mitgefühl. Im Grunde zeigte sie noch nicht einmal Interesse, sondern sah wieder weg.
Dennoch entschied sich Verhoeven dafür, weiterzusprechen. »Es war an dem Tag, an dem die Frau vom Sozialamt ihre Kleider aus dem Schrank genommen hat. Ich sah zu, aber irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr aushalten. Also lief ich weg, stieg in den ersten Bus, den ich kriegen konnte, und fuhr durch bis zur letzten Station.«
»Was war dort?«
»Woher wissen Sie, dass dort etwas Besonderes war?«, fragte Verhoeven, dem seine eigenen Worte reichlich verworren vorkamen, überrascht.
Ein leises Lächeln glitt über Inger Liesons Gesicht. »Weil man im Unglück niemals ziellos ist«, sagte sie. »Zumindest ist das meine persönliche Erfahrung.«
»Ein paar Meter von der Haltestelle entfernt begann ein Wanderweg, den ich mit meiner Mutter hin und wieder gegangen war«, fuhr Verhoeven fort. »Er führte quer durch die Weinberge an einer Felswand vorbei, die fast senkrecht zum Rhein hin abfällt.« Er hörte sich lachen, ohne erklären zu können, warum. »Es regnete in Strömen damals, aber ich stand über eine Stunde dort oben und dachte über die Frage nach, wie weh es wohl tut, wenn man sich das Genick bricht.«
Inger Lieson lächelte noch immer, und Verhoeven hätte sie am liebsten umarmt dafür, dass sie so und nicht anders reagierte.
»Irgendwann bin ich dann wieder zurückgegangen«, schloss er. »Ich musste fast zwei Stunden auf den nächsten Bus warten, und auf der Rückfahrt hatte ich das merkwürdige Gefühl, an Farbe zu verlieren, je weiter ich mich von dieser Stelle entfernte. Und natürlich habe ich mir in den nächsten zehn oder noch mehr Jahren bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vorgeworfen, dass ich nicht den Mumm hatte, die Sache zu Ende zu bringen.« Er hielt kurz inne, bevor er hinzusetzte: »Es war ja nicht so, dass ich irgendein Eingreifen einer höheren Macht für mich in Anspruch nehmen konnte, verstehen Sie das? Ich meine, ich habe nicht die Stimme meiner Mutter gehört, die mich gebeten hätte, es nicht zu tun. Und es ist auch niemand vorbeigekommen, der gesagt hat: Hey Junge, lass das bloß bleiben, wer weiß, was das Leben noch für dich bereithält, oder so ähnlich ...«
Inger Liesons erschreckend bleiches Gesicht wandte sich ihm zu. »Es ist immer einfacher, wenn man nicht für sich selbst entscheiden muss, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er nur.
»Und was geschah mit Ihnen, als Sie zurückkamen?«
»Ich kriegte eine ganze Menge Ärger, wie Sie sich vorstellen können, und wurde noch am selben Abend in ein Heim gebracht. Ein paar Monate später hat man mich dann einer Pflegefamilie übergeben.«
Inger Lieson bedachte ihn mit einem Blick, den Verhoeven als prüfend, jedoch keineswegs als indiskret empfand. »Und?«, fragte sie. »Hatten Sie Glück?«
»Da noch nicht«, antwortete er nach kurzem Zögern.
Die Bankiersgattin nickte. »Was hat Ihnen letztendlich geholfen, diesen Prozess des Verblassens aufzuheben?«
Verhoeven überlegte. »Zeit«, sagte er schließlich, und wie um ihn zu verhöhnen, tauchte vor seinem inneren Auge der Wecker auf, den Goldstein mitten auf Walther Liesons Mahagonitisch platziert hatte. »Ich glaube, in meinem Fall war es tatsächlich die Zeit, die die Dinge wieder ins Lot gebracht hat.«
»Waren Sie jemals wieder dort?«
»Sie meinen an diesem Abhang?« Verhoeven stieß sich vom Kühlschrank ab. »Nein, war ich nicht.«
Inger Lieson nickte wieder. »Ich kenne meinen Mann nicht besonders gut«, sagte
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