Schattenriss
sich in den Gesichtern seiner Mitgefangenen um. »Es sieht viel zu neu aus, als dass es schon lange in dieser feuchten Umgebung liegen kann.«
Jetzt fängt die Sache an, interessant zu werden, dachte Winnie Heller und sah zu Quentin Jahn hinüber. Sie hatten über Walther Lieson gesprochen. Über das, was die Entführer von ihm wollen oder nicht wollen konnten. Und über jenen mysteriösen Namen, den Alpha in der Bank genannt hatte. Die Entführer wollten jemanden herbringen, dachte sie. Jemanden, den sie zur fraglichen Zeit in der Filiale erwartet hatten, möglicherweise Lieson. Und wir alle, die wir hier sitzen, sind gewissermaßen nur der Ersatz für den einen, hinter dem sie wirklich her sind. Eine unerwartete Notwendigkeit. Ihre Augen glitten über die Grubenwände. Und so wie hier brachte man definitiv keinen Komplizen unter!
Trotzdem hat dieser Malina dich an die Entführer verraten, flüsterte ihr eine Stimme zu, die wie Iris Kuhn klang. Also sieh dich vor!
»Stimmt«, befand unterdessen Evelyn, und Winnie Heller brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es noch immer um die Matratze ging. Um die Frage, wie lange sie schon in der Grube liegen mochte. Oder eben nicht. »Das Ding sieht aus wie bestellt und nicht abgeholt.«
»Mich beschäftigt, dass diese Männer so unbedingt mit Walther sprechen wollten«, sagte Abresch unvermittelt wie zu sich selbst.
»Nicht nur mit ihm«, hörte Winnie Heller sich sagen, bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte.
Sei um Gottes willen vorsichtig!
Evelyns Schweinsäuglein waren als Erste bei ihr. »Mit wem denn noch?«
Jetzt galt es! Einer ihrer Mitgefangenen hatte sie ans Messer liefern wollen, und jetzt würde sie denjenigen aus der Reserve locken! Winnie Heller richtete ihren schmerzenden Körper auf, um die Reaktionen der anderen besser beobachten zu können. Dann wiederholte sie leise, aber bestimmt: »Die Entführer haben nicht nur nach Herrn Lieson gefragt. Der Anführer wollte auch mit Malina reden.«
7
Die Wohnung von Ylva Bennet befand sich in einer tristen Wohnsiedlung. Sechsstöckige Bauten aus den Sechzigern, Fenster über Fenster, alles Grau in Grau, einzig das Erdgeschoss grünbraun verklinkert. Dazwischen lagen ungepflegte Rasenflächen, die den Geruch von Bier und Hundekot verströmten. Wie mag es hier im Sommer sein, dachte Verhoeven, wenn die Luft zwischen den kahlen Mauern steht und kein Lüftchen Linderung verheißt. Wie hält man es bei Hitze aus, in einer Umgebung wie dieser?
Er blickte über den unansehnlichen Rasen und suchte nach einer Hausnummer, als sein Handy zu klingeln begann.
»Sind Sie schon bei ihr?«, erkundigte sich Hinnrichs, kaum dass Verhoeven seinen Namen genannt hatte.
»Vor dem Haus.«
»Gott sei Dank.«
»Wieso?«
»Halten Sie sich fest: Es existiert tatsächlich eine Akte über Ylva Bennet, und nach allem, was wir in der Kürze der Zeit in Erfahrung bringen konnten, war sie als junges Ding ganz und gar nicht ohne.«
»In welcher Beziehung?«, fragte Verhoeven, während die Fassade vor ihm zu einem einheitlichen grauen Fleck zusammenschmolz.
»Wir stehen natürlich noch ganz am Anfang mit unseren Recherchen, aber es sieht so aus, als ob sie in ihrer Studienzeit und wahrscheinlich auch danach als Informantin für den Westen gearbeitet hat.«
Verhoeven horchte auf.
»Sie scheint ein hochintelligentes, freiheitsliebendes junges Mädchen gewesen zu sein«, fuhr sein Vorgesetzter mit dem schnörkellosen Herunterrattern der Eckdaten fort. »Begeisterte Reiterin, der Vater preußischer Offizier, die Mutter bis zu ihrer Heirat Lehrerin und eher musisch veranlagt. Die Tochter hat sich nie mit dem Sozialismus anfreunden können, und der Mauerbau muss die junge Ylva tief schockiert haben. Also hat sie wohl irgendwann beschlossen, dass man etwas gegen das Regime unternehmen müsse.«
»Und wie äußerte sich das?«
»Na ja, zunächst mal ganz klassisch, wenn man so will«, sagte Hinnrichs. »Sie druckte zusammen mit ein paar gleichgesinnten Kommilitonen staatsfeindliche Pamphlete, nahm Kontakt zu einer tschechischen Untergrundbewegung auf und so weiter und so fort. Als Folge dieser Aktionen wurden allerdings ein paar von unseren Leuten auf sie aufmerksam. Diese Leute überredeten Ylva Bennet, ganz gezielt bestimmte Informationen zu sammeln und an sie weiterzugeben.«
»Sie meinen, sie betrieb Spionage?«
»Ach«, sagte Hinnrichs. »Das wäre wohl zu viel gesagt. Im Grunde genommen war das Ganze keine
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