Schattenriss
große Sache, es ging eher um Befindlichkeiten oder Stimmungen, die für die Einschätzung künftiger Entwicklungen interessant sein konnten. Nur blieb Ylva Bennets Tun trotz seiner relativen Harmlosigkeit von der Gegenseite nicht unbemerkt.«
Von der Gegenseite, wiederholte Verhoeven in Gedanken. Das alles klingt wie aus einem schlechten Film!
»Wie Sie vielleicht wissen, wurde staatsfeindliche Hetze in der DDR grundsätzlich nicht von der Volkspolizei verfolgt, sondern von der Geheimpolizei« fuhr Hinnrichs indessen fort. »Und die Stasi setzte einen so genannten IMB auf Ylva Bennet an, einen inoffiziellen Mitarbeiter, der auf das Ausspionieren von Personen spezialisiert war, die im Verdacht der Feindtätigkeit standen.«
Verhoeven hielt unwillkürlich den Atem an.
»Laut Akte trug dieser IM den Decknamen Malina.« Malina ...
Großer Gott, dachte Verhoeven, ich habe tatsächlich richtig gelegen! Eigentlich müsste ich jetzt wohl erleichtert sein. Aber ich fühle mich nicht erleichtert. Eher das Gegenteil.
»Den rund 110 000 gewöhnlichen IMs der Staatssicherheit standen nur etwa 3900 Personen gegenüber, die über diese ... ich nenne es mal vorsichtig: Zusatzqualifikation verfügten, also IMBs waren«, erklärte Hinnrichs derweil weiter. »Diese Leute waren in der Regel besonders linientreu und erhielten entsprechend ihrer Stellung weitaus häufiger als gewöhnliche IMs Geldprämien, Geschenke oder sonstige Privilegien ...«
Während er den Ausführungen seines Vorgesetzten lauschte, musste Verhoeven daran denken, was Monika Zierau über Quentin Jahn gesagt hatte: Nach dem Auszug seiner Frau dümpelt sein Leben so vor sich hin, bis er 1969 urplötzlich wie Phönix aus der Asche steigt und Karriere macht. Mit seiner Stellung wachsen auch seine Freiheiten und seit den frühen siebziger Jahren hat er ein vergleichsweise angenehmes Leben da drüben geführt. Jagdgesellschaften und Empfänge bei hohen Parteibonzen inklusive.
Geldprämien, Geschenke oder sonstige Privilegien.
Privilegien ...
»Der IMB, der auf Ylva Bennet angesetzt war, sollte zunächst ebenfalls nur Informationen über sie zusammentragen. Doch dann muss etwas geschehen sein, das zu dem Entschluss führte, Ylva Bennet aus dem Weg zu räumen.«
Verhoeven blieb stehen, weil er das Gefühl hatte, sich voll und ganz auf dieses Gespräch konzentrieren zu müssen. »Aber Sie wissen nicht, was das gewesen ist?«
Sein Vorgesetzter verneinte. »Was das Ganze allerdings noch tragischer macht, ist die Tatsache, dass Ylva Bennet zu diesem Zeitpunkt schwanger war.«
Sie waren ganz unverkennbar verwandt , flüsterte Inger Lieson in Verhoevens Kopf. Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen: Mutter und Sohn.
»Die Stasi ließ sie in Ruhe, bis das Kind auf die Welt kam«, sagte Hinnrichs. »Mit der Geburt war die Schonfrist allerdings vorbei, und sie haben ihr das Baby noch im Kreißsaal weggenommen. Das Kind, ein Junge, kam in ein Heim, und Ylva verschwand in der Psychiatrie, wo sie ohne jede medizinische Rechtfertigung unter Psychopharmaka gesetzt wurde.«
Die Frau, die ich gesehen habe, wirkte, als ob sie sich in einem von diesen Zuständen befände, in denen man nicht mehr man selber ist , stimmte eine imaginäre Inger Lieson zu. Zumindest nicht so, wie man eigentlich sein sollte. Oder wie man vielleicht irgendwann einmal gedacht war …
»Was ist mit dem Vater?«
»Sie meinen den Vater des Babys?«
»Ja.«
»Tja«, sagte Hinnrichs, »das ist eine gute Frage.«
»Weiß man nicht, wer er war?«
»Die Stasi zumindest hatte offenbar keine Ahnung.«
Dabei wussten die doch angeblich fast alles, dachte Verhoeven. Aber eben nur fast ... »Ylva Bennet war demnach nicht verheiratet oder fest liiert?«
»Sie soll mit ein paar von ihren Kommilitonen befreundet gewesen sein«, antwortete sein Vorgesetzter. »Aber so richtig fest gebunden war sie wohl nicht.«
Verhoeven wich einem Mann aus, der trotz der kühlen Temperaturen nichts als ein fleckiges Unterhemd zu seinen Jeans trug und einen verwahrlost wirkenden Yorkshireterrier an der Leine führte.
»Sie dürfen nicht vergessen, das war Anfang der Siebziger«, setzte Hinnrichs hinzu, als ob er seinem Untergebenen noch eine Erklärung schuldig sei. »Da ging es im Gefolge der 68er auch auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs recht locker zu, und Ylva Bennet muss eine sehr attraktive junge Frau gewesen sein.« Er räusperte sich kurz und energisch, vielleicht, weil er das Gefühl hatte, unsachlich
Weitere Kostenlose Bücher