Schattenriss
gewesen zu sein. Dann sagte er: »Solche Zwangsadoptionen wurden von der DDR-Führung übrigens gerade in den Siebzigern durchaus als Mittel zur Repression oder Vergeltung eingesetzt, auch wenn Margot mit den blauen Haaren bis heute das Gegenteil behauptet.« Er ließ ein verächtliches Schnauben hören. »Leider ist das alles noch immer nicht richtig aufgearbeitet, und die ersten Akten zu diesen Vorgängen hat man überhaupt erst Anfang der neunziger Jahre im Archivkeller des Berliner Bezirksamts Mitte entdeckt. Trotzdem scheint bis heute kaum jemand ein gesteigertes Interesse daran zu haben, Licht in diesen Teil der Vergangenheit zu bringen.«
Sie haben ihr das Baby noch im Kreißsaal weggenommen ... Was muss das für ein Gefühl sein, dachte Verhoeven. Man freut sich auf sein Kind, und kaum ist es da, verschwindet es irgendwohin, wo man es vielleicht nie wiederfindet.
Aber Ylva Bennet hat ihren Sohn wiedergefunden , widersprach ihm eine imaginäre Inger Lieson. Sie muss ihn wiedergefunden haben. Der Mann und die Frau, die ich gesehen habe, waren ganz unverkennbar verwandt.
Verhoevens Augen blieben an einer der verklinkerten Wände hängen, und über einer langen Reihe von Briefkästen entdeckte er nun auch endlich die Hausnummer, die er suchte. »Sie haben gesagt, Ylva Bennet wurde in eine Psychiatrische Klinik verbracht«, wandte er sich wieder an seinen Vorgesetzten.
»Genau.« Hinnrichs raschelte mit etwas. Offenbar schaute er irgendwo nach. »Sie kam zwei Tage nach der Entbindung in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik Storkow. Das liegt bei Berlin.«
»Und wie lange haben sie sie dort gefangen gehalten?«, fragte Verhoeven, denn anders konnte man das, was Ylva Bennet geschehen war, ja nun wirklich nicht nennen.
»Sechzehn Jahre«, antwortete Hinnrichs mit einer Stimme, die klang, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagte. »Sie arbeitete als Näherin in der dem nahe gelegenen Textilkombinat angegliederten klinikeigenen Produktionsstätte, bis die Wende kam.«
»Und dann?«
»Wurde sie entlassen, ging in den Westen und fand sich nicht zurecht«, schnarrte Hinnrichs die Fakten nun wieder mit der üblichen schnörkellosen Direktheit herunter.
»Was soll das heißen, sie fand sich nicht zurecht?«, fragte Verhoeven, während er zögerlich, fast furchtsam auf die Haustür zuging.
»Wenn Sie als gesunder Mensch so lange weggesperrt und unter Drogen gesetzt werden, ist es vermutlich schwer bis unmöglich, sich wieder in die so genannte normale Gesellschaft einzugliedern oder sich auch nur halbwegs vernünftig zu orientieren.« Burkhard Hinnrichs seufzte. »Na, wie auch immer, Ylva Bennet scheint es jedenfalls nicht gelungen zu sein. Sie lebte mehr schlecht als recht vor sich hin, unternahm einen ernstzunehmenden Selbstmordversuch und landete daraufhin abermals in einer Anstalt. Dort blieb sie ein paar Jahre, bis die Ärzte davon überzeugt waren, dass sie nicht länger eine Gefahr für sich selbst darstellte. Alles Weitere wurde von Amts wegen geregelt. Die für Frau Bennet zuständige Sozialarbeiterin setzte eine kleine Rente für sie durch und besorgte ihr die Wohnung, in der sie noch heute lebt.«
Und die ich in wenigen Minuten betreten werde, dachte Verhoeven mit wachsendem Unbehagen.
Glauben Sie, dass man verschwinden kann, ohne aufzuhören, anwesend zu sein?
»Was ist mit dem Kind, das sie zur Welt brachte?«, fragte er, indem er seine Augen suchend über die Klingelschilder wandern ließ. »Ihrem Sohn? Wo ist er heute?«
»Das wüssten wir auch gern«, erwiderte Hinnrichs. »Die Kollegen sind gerade dabei, seine Geschichte zu rekonstruieren, aber das kostet Zeit.«
»Hat Ylva Bennet versucht, ihn zu finden?«
»Wissen wir nicht. Falls ja, hätte sie ohnehin erst nach der Wende Gelegenheit gehabt, nach ihm zu suchen. Aber nach allem, was wir inzwischen über ihren Geisteszustand wissen, halte ich das für eher unwahrscheinlich.«
Dennoch scheinen sie einander gefunden zu haben, irgendwie, widersprach Verhoeven seinem Vorgesetzten in Gedanken, indem er an die Kinder dachte, die zusammen mit ihm bei Schmitz und Anna gelebt hatten. Die wenigsten von ihnen waren Vollwaisen gewesen. So wie er. Und diejenigen unter ihnen, die bei ihrem Einzug in das düstere Haus im Frankfurter Norden noch zu klein gewesen waren, um Fragen zu stellen, hatten zu suchen begonnen, kaum dass sie alt genug gewesen waren, um ein Telefon zu bedienen. Selbst dann, wenn sie längst gewusst hatten,
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