Schattenriss
sich, über sie, über das, was ihnen passiert ist. Damals. Und auch danach. Natürlich hat er gewusst, dass sie in einer Anstalt gewesen ist. Aber das war doch nur wegen …
Dorthin hat man sie doch nur aus politischen Gründen ... Oder doch nicht?
Seine Gedanken jagen hin und her. Wie kann es möglich sein, dass sie tatsächlich verrückt ist? Sie, die Frau, die ihn zur Welt gebracht hat, seine MUTTER???
Ylva Bennet, wiederholt etwas in ihm, als tauge allein der Name als Garant für Stärke und geistige Gesundheit. Ylva Bennet, der Vater Gutsbesitzer, die Mutter Hausfrau. Ein Bruder, sechsjährig an Scharlach verstorben. Studium der Geschichte in Magdeburg. Wissenschaftliche Assistentin am dortigen Hochschulinstitut. Unerschrocken, politisch interessiert, idealistisch. Verraten von einem, der sich nicht darum geschert hat, dass sie ein Kind erwartete. Verraten, betrogen, weggeschlossen. Das sind die Fakten, das Einzige, was ihn in dieser Situation noch retten kann.
Vielleicht retten ...
Natürlich hat er sich davor gefürchtet, dass sie ihn in den Arm nimmt. Dass sie zu weinen beginnt an seinem Hals, dass sie nicht müde wird, zu schluchzen »Mein Junge, mein lieber Junge, endlich!« Aber jetzt gäbe er Gott weiß was darum, sie so zu sehen.
Doch sie weint nicht.
Schluchzt nicht.
Stattdessen spiegelt ihr Blick eine tiefe Verständnislosigkeit, so offensichtlich, dass ihn zum ersten Mal in seinem wahrhaftig nicht immer rosigen Leben das Gefühl überkommt, es nicht mehr auszuhalten. Und am liebsten würde er sie bei ihren knochigen, unendlich zerbrechlich wirkenden Schultern packen und sie schütteln. So lange, bis sie endlich in einer Weise reagiert, die ihm logisch erscheint. Angemessen.
Vergessen, denkt er, ist etwas, das ich mit Brillen in Verbindung bringe. Vielleicht gerade noch mit Hochzeitstagen. Aber mit dem eigenen Kind? Was für einen Charakter muss man haben, damit einem so etwas gelingt?
Wie um ihn abzulenken von diesen Gedanken, schleicht sich ein alter Satz in sein Bewusstsein. Etwas, das Andreas und er gespielt hatten. Aber vielleicht ist »gespielt« in diesem Zusammenhang auch schon wieder das falsche Wort. Sag, wie du heißen würdest, wenn du heißen dürftest, wie du heißen wolltest! Diese komische kleine Aufforderung, die wie eine Melodie klingt, hatten sie einander vorgesungen, nahezu jedes Mal, wenn sie im Gras hinter dem Haupthaus gelegen und in die Wolken geblickt hatten. Eine absurde Aufforderung, zugegeben, und eine schmerzliche obendrein, weil sie ein Manko offenlegte.
Bei ihm zumindest.
Ein Name, ob man diesen Namen nun mochte oder nicht, war etwas, auf das man gewissermaßen ein Recht hatte, fand er. Genauso ein Recht wie auf eine Familie. So wie bei Andreas. Der hatte eine Scheißfamilie und einen halbwegs akzeptablen Namen. Das war doch immerhin etwas Fassbares. Etwas, das man akzeptieren konnte oder auch nicht. Gegen das man sich auflehnen, das man mögen oder das man vielleicht auch lächerlich finden konnte. Aber damit zugleich etwas, das einem Halt gab. Einen Halt, den er selbst immer vermisst hatte. Die Leute, die für ihn zuständig gewesen waren, hatten nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich bei der Wahl seines Namens keine besondere Mühe gegeben hatten. Einen Maik hatte es im Ernst-Thälmann-Heim noch nicht gegeben, also wurde er ein Maik, ohne jemals zu einem Maik geworden zu sein. Im Gegenteil, er hatte diesen Namen mit sich herumgeschleppt wie einen Schuh, der ihm einfach nicht passen wollte und den er deshalb auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit vom Fuß streifte.
Sag, wie du heißen würdest, wenn du heißen dürftest, wie du heißen wolltest!
Namen, denkt er, sind nicht bedeutungslos. Auch wenn man das durchaus annehmen könnte, wo doch die wenigsten Menschen tatsächlich Einfluss nehmen konnten auf ihre Namen. Und doch ... Irgendwie war er schon immer zutiefst davon überzeugt gewesen, dass es nicht unwesentlich war, wie jemand hieß.
Oder sich nannte ...
Malina. Malina. MALINA.
Oh, ja, er hatte sich informiert. Über den Roman. Über die fremdsprachliche Bedeutung. Und auch über den ganzen Rest. Eine polnische Himbeere. Oder eine kroatische. Eine Rebsorte. Ein Ort in Bulgarien. Ein netter, stets präsenter Militärhistoriker in einem berühmten Buch, der vielleicht gar nicht existierte. Die hebräische Koseform von Magdalena. Die Sonnengöttin der Eskimos. Er war jeder einzelnen Bedeutung dieses vermaledeiten Namens nachgegangen, doch
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