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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ist. Vielleicht auch, weil sie nicht immer daran denkt, dass man essen muss.
    Er betrachtet ihre Hände, die nervös hin und her wischen.
    Als sie es bemerkt, lächelt sie, ohne hochzublicken. »Ich muss mich immer irgendwie beschäftigen«, sagt sie mit dieser durchsichtigen, kaum wahrnehmbaren Stimme, die er irgendwie schön findet, ohne dass er weiß, warum.
    Er nickt. »Das ... ist gut.«
    Sie nickt auch und zeigt auf ein Bild an der gegenüberliegenden Wand, das ihm bislang nicht aufgefallen ist, weil es im Dunkel einer Nische hängt. Schon wieder eine Handarbeit. Gestickt nach einem Gemälde, das er irgendwo schon mal gesehen hat. Wie hieß das noch gleich?, überlegt er. Es ist ein berühmtes Bild, das weiß er bestimmt.
    »Wie lange brauchst du für so was?«, fragt er ohne einen Funken Interesse. Wahrscheinlich tut er es nur, weil er das Gefühl hat, dass sie eine solche Frage von ihm erwartet.
    »Ich sticke nicht mehr«, antwortet sie, und für den Bruchteil
    einer Sekunde huscht etwas wie ein Schatten über ihr Gesicht. Er spürt ihre Ablehnung, und auf einmal beginnt ihn dieses
    Bild an der Wand brennend zu interessieren.
    »Wie lange ist das her?«
    Verständnislosigkeit. »Was?«
    »Dass du dieses Bild gemacht hast.«
    Sie überlegt. »Zeit«, flüstert sie, und es klingt wie ein Geheimnis.
    Er wartet darauf, dass sie mehr sagt, aber sie belässt es bei diesem einen, wenig hilfreichen Wort.
    Zeit ...
    Sein Blick sucht wieder die Tischdecke auf ihrer Sessellehne. Die Handarbeit. Wieso hat sie gesagt, dass sie nicht mehr stickt, wo doch dort neben ihr ganz eindeutig ein Stickzeug liegt? War das verrückt, einfach nur verrückt? Oder hatte es vielleicht doch eine Bedeutung?
    Ich sticke nicht mehr ...
    Steckte hinter dieser banalen kleinen Aussage mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde? Warum reagierte sie so komisch auf bestimmte Dinge? »Und das da?«, fragt er, indem er auf das Bündel bunter Fäden zeigt. »Was wird das?«
    Sie schaut ihn an.
    »Das sind Blumen, nicht wahr? Vergissmeinnicht?« Er kennt sich nicht aus mit Blumen. Es ist einfach ein Schuss ins Blaue. Sie soll merken, dass er sich interessiert für das, was sie tut. Oder nicht mehr tut. Wie auch immer ...
    »Oh doch«, reißt ihre Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Das muss man.«
    »Was?«, fragt er.
    Keine Antwort.
    »Mutter?«
    Er kann sehen, wie fremd es ihr ist, wenn er sie so nennt. Vielleicht sogar gleichgültig. Trotzdem will er nicht aufhören damit. Irgendwann muss schließlich auch sie einmal etwas für ihn empfunden haben. Muttergefühle.
    »Bitte«, versucht er es noch einmal, obwohl er längst das Gefühl hat, den Überblick verloren zu haben. »Sag mir, was man muss!«
    »Vergessen«, flüstert sie.
    Sie spricht von den Blumen auf ihrer Mitteldecke! Blau und hellgrün. Er hat sich nicht geirrt. Selbst wenn er nichts von Blumen versteht. Es sind Vergissmeinnicht!
    »Was muss man vergessen?«, insistiert er. Und als er sieht, dass das die falsche Frage ist, korrigiert er sich hastig: »Wen?«
    »Ich glaube, er denkt, dass ich ihn nicht erkannt habe«, flüstert Ylva mit ihrer schönen, geheimnisumwitterten Stimme. »Er hat keine Ahnung, dass ich weiß, wer er ist.«
    Sag, wie du heißen würdest, wenn du heißen dürftest, wie du heißen wolltest!
    »Aber ich vergesse ihn wieder«, fügt sie hinzu, als ob sie es für nötig halten würde, ihn in diesem Punkt zu beruhigen. Oder sich selbst. »Es ist mir schon einmal gelungen. Es wird mir wieder gelingen.«
    Erschöpft von so viel Worten, lässt sie sich in die weichen Polster ihres Sessels zurücksinken. Aber da ist er schon über ihr. Schüttelt sie. Hält sie. Umarmt sie. Alles in einem Augenblick.
    »Wen?«, schreit er ihr ins Gesicht, wieder und wieder und wieder. »Sag es mir! Sag es mir! Verdammt noch mal, Mutter, sag es mir endlich!«
    Sie starrt ihn an. Erschrocken. Ganz kurz auch noch einmal klar.
    »Oh, mein Gott«, ist das Einzige, was er darauf entgegnen kann.
    Erst später, viel später, erst als er ihre schäbige kleine Wohnung längst verlassen hat, kann er laut aussprechen, was er in diesen magischen Sekunden in ihrem Blick gesehen zu haben glaubt.
    »Malina«, flüstert er, während er quer über den ungepflegten Rasen zu seinem Auto zurückgeht, und es klingt beinahe wie eine Beschwörung, wie er das sagt. »Hol mich der Teufel, Malina ist hier ...«
     

SECHSTER TEIL

Wiesbaden, 16. März 2008
     
     
     
    1
     
    Die Zeiger des Weckers auf dem

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