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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Nachtschrank zeigten 3 Uhr 37, als Verhoeven schweißgebadet erwachte.
    Zuerst lag er eine Weile ganz still und lauschte seinem eigenen, gehetzten Atem. Er hatte von Schmitz geträumt. Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet in einer Situation wie dieser. Dabei hatte ihn sein Pflegevater schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr heimgesucht.
    Tja, mein Lieber, das dicke Ende kommt immer dann, wenn man denkt, es ist vorbei , frohlockte Anna in seinem Kopf.
    Verhoeven drehte sich auf die Seite und betastete vorsichtig die Matratze unter sich. Doch zu seiner Erleichterung war alles trocken. Bettnässen deutet auf schwerwiegende seelische Belastungen hin , so oder so ähnlich hatte es in den Büchern gestanden, die er sich als Abiturient besorgt hatte, heimlich, in einer Buchhandlung am anderen Ende der Stadt, und voller Scham. Aber er hatte unbedingt wissen wollen, was da nicht stimmte mit ihm. Warum er, der sich selbst durchaus für einen disziplinierten und alles in allem auch halbwegs gesunden Menschen hielt, so viele Jahre gebraucht hatte, um mit etwas aufzuhören, das in keiner Weise zu ihm passte.
    Schwerwiegende seelische Belastungen ...
    Er biss sich auf die Lippen und dachte an das große, zugige Haus, in dem sie gelebt hatten. Anna, Schmitz und er. Dazu so genannte Brüder und Schwestern, die kamen und gingen und an die man schon allein aus diesem Grund am besten so wenig Gefühl wie möglich verschwendete. Die meisten von ihnen hatte er dennoch vor Augen. Ebenso wie Anna. Anna im Garten, in der Küche, am Nähtisch. Seit jüngstem auch mit Stock oder in ihrem viel zu großen Sessel, einen Stapel Arzneimittelpackungen neben sich auf dem Nachtschrank, klein und runzlig, wie eingelaufen. Schmitz dagegen war nichts als ein düsteres Phantom. Ein gesichtsloser Schatten, fast so, als ob jemand die Bilder seines Pflegevaters, die in seinem Gedächtnis existierten, existieren mussten , mit Absicht unscharf gemacht hätte. So wie man die Gesichter von Menschen, die nicht erkannt werden wollten, im Fernsehen mit Pixeln versah. So sehr er sich auch bemühte, Verhoeven fand in seiner Erinnerung nur zwei Bilder seines Pflegevaters: Schmitz im Türrahmen, rotgesichtig und schreiend. Und Schmitz mit Windeln in einem billigen Pflegebett mit schiefem Gesicht und hilflos wie ein Baby. Diese beiden verbliebenen Bilder allerdings waren derart scharf und detailreich, als müssten sie den Verlust aller anderen Erinnerungen durch ihre besondere Klarheit wettmachen. Und wenn er wollte, konnte Verhoeven sich bis heute jede Sekunde seines ersten und einzigen Besuchs in dem stickigen kleinen Pflegezimmer mit der Nummer 344 ins Gedächtnis rufen. Er hatte den Raum betreten, grußlos und ohne eine Miene zu verziehen, und dann hatte er Schmitz die billige Polyesterdecke vom Körper gerissen, um sich alles ganz genau anzusehen. Er hatte entwürdigend lange Blicke auf die verschlackten, blaugeäderten Beine geworfen. Und auch auf die Windeln, für die sich der übermännliche Schmitz so sehr geschämt hatte, dass ihm wirklich und wahrhaftig Tränen in den kugelrunden Augen gestanden hatten.
    »Jetzt bist du derjenige, der ins Bett pisst«, war das Einzige, was er damals zu seinem Pflegevater gesagt hatte. Und zugleich auch das Letzte.
    Danach war er gegangen und nie mehr zurückgekehrt. »Was ist los?«, fragte Silvie neben ihm.
    »Alles in Ordnung«, flüsterte er. »Schlaf weiter.«
    »Hattest du wieder einen von diesen Alpträumen?«
    »So was Ähnliches«, nickte er, weil er zu genau wusste, dass er seiner Frau nichts vormachen konnte. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«
    »Möchtest du darüber sprechen?«
    »Nein.«
    Ich kann nicht darüber sprechen. Ich habe noch nie darüber gesprochen, und ich werde auch dieses Mal nicht darüber sprechen. Meine Alpträume gehören mir. Mir ganz allein.
    »Na toll!« Silvie hatte sich aufgesetzt und strahlte nun wieder diese besondere Energie aus, die sie immer dann an den Tag legte, wenn sie sich zutiefst machtlos fühlte. »Sind wir also wieder an diesem Punkt, ja?«
    »An welchem Punkt?«
    »An dem Punkt, an dem du mich ausschließt.«
    »Ich schließe dich nicht aus.« Verhoeven schwang die Beine über die Bettkante und drehte ihr den Rücken zu, aber ein derart plumper Rückzugsversuch konnte seine Frau natürlich nicht aufhalten.
    »Oh, doch, das tust du.« Sie kam um das Bett herum und zog sich einen Hocker heran, wobei sie penibel darauf achtete, sich so zu setzen, dass er sie ansehen

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