Schattenriss
keine davon hatte ihn weitergebracht. Die Person, die seine Mutter verraten hatte und die die Verantwortung trug für das, was aus ihr und ihm geworden war, diese Person war auf nervenzerreißende Art unfassbar geblieben.
Ein Schatten.
Ein Phantom.
Und auch die Hoffnung, dass Ylva ihm vielleicht sagen konnte, nach wem er suchen musste, nach einem Mann oder nach einer Frau, nach einem Historiker oder nach einem Agrarwissenschaftler, nach einem Geographen oder Polen oder, oder, oder, diese seine letzte Hoffnung zerschlug sich jetzt also auch.
Sein Blick ruhte auf ihrem Rücken, der sich gerade matt und schlurfig über eine Schublade rundete. Was suchte sie dort? Was wollte sie ihm zeigen?
Er schluckte, und fast graute ihm vor der Antwort.
Ylva hieß »die Wölfin«. Und genauso ein Bild hatte er von ihr im Kopf gehabt. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dieses Bild, aber jetzt, da er sie vor sich sieht, wird ihm klar, dass sie seinem Bild nicht entspricht. Dass er enttäuscht ist über dieses gebrochene Wesen, das so gar nichts von einer Wölfin hat.
Sag, wie du heißen würdest, wenn du heißen dürftest, wie du heißen wolltest!
Seine Mutter erhebt sich mühsam vom Boden und hält etwas in die Höhe, das wie eine Filmrolle aussieht.
»Was ist das?«, fragt er, doch sie antwortet nicht.
Stattdessen verschwindet sie mitsamt der Rolle in der düsteren kleinen Diele, die zwischen ihm und der Wohnungstür liegt, dem Ausgang, der kein Ausweg ist.
Er hört ein Poltern. Dann etwas, das wie Pappe klingt. Durch das gekippte Fenster weht Herbstluft herein. Laubduft und Lärm.
Als sie zurückkommt, schleppt sie etwas mit sich. Ein Projektor. Uralt offenbar. Das Ding muss etliche Kilo wiegen.
Was hat sie vor?
Sie müht sich unter seinen Augen mit dem Kabel ab, steckt es falsch herum in den Apparat, reißt es wieder heraus, um es wieder falsch hineinzustecken.
»Soll ich?«, fragt er, als er es nicht mehr aushält.
Sie nickt. »Ist lange her«, sagt sie wie zur Entschuldigung. Und dann: »Ich glaube, es muss dunkler sein.«
Sie tritt an das kleine, vollkommen quadratische Fenster und lässt die Rollläden ein Stück herab, aber nicht zu viel.
»Ich ertrage keine Dunkelheit«, sagt sie.
»Ich auch nicht«, antwortet er, und seltsamerweise stimmt das sogar.
»Du musst ihn hier rein tun.« Ihre Finger zittern, als sie das steife, belichtete Plastik durch den dafür vorgesehenen Schlitz führt. Aber es gelingt. Sie dreht den Schalter an der Seite des Projektors, und auf der Wand hinter dem Couchtisch flammt ein Bild auf. Nein, Bilder. Bewegte Bilder.
Eine Rasenfläche in Schwarzweiß. Ein Tennisnetz. Dazu zwei junge Mädchen mit klobigen Schlägern, vielleicht achtzehn, allerhöchstens zwanzig Jahre alt. Er erstarrt, als er in einem der beiden Gesichter die Frau erkennt, die ihm gegenübersitzt. Das Mädchen, das seine Mutter gewesen ist, lacht in die Kamera. Laut und ungezwungen. Dann wirft es sich vor seinen Augen auf den Boden und streckt die Beine in die Luft wie ein junges Fohlen. Er sieht ihre Unterhose aufblitzen, weiß wie der Rock und mit Spitzen am Rand. Eine eigenartige Mischung aus elegant und verrucht. Sie strampelt und lacht, und auf einmal sieht er sie doch noch vor sich, Ylva, die Wölfin. Die unerschrockene, unbändige Frau von seinem Familienfoto.
Unwillkürlich blickt er zu ihr hinüber, zu dem, was aus ihr geworden ist, doch sie reagiert nicht, sondern hat den Kopf weggedreht und schaut auf die Wand. Betrachtet sich selbst hoch zu Pferd. Ein Rappe, der in rasendem Galopp über ein heckengesäumtes Stoppelfeld fliegt. Ihr Haar fliegt hinterher. Frei und verwegen. Und unendlich jung.
Dann reißt es plötzlich.
Er hört ein Flattergeräusch, als sich das Filmende sinn- und ziellos um die Spule der leeren Rolle wickelt, bis ihre pergamentartigen Finger dem Treiben Einhalt gebieten.
Das Licht an der Wand verlöscht.
Die Stille, die es zurücklässt, ist raumgreifend.
Ihre Augen treffen aufeinander.
Und zum ersten Mal, seit er bei ihr ist, blitzt etwas wie Verständnis in ihren Augen auf.
»Seltsam«, sagt sie wie zu sich selbst. »Jahrzehntelang ist alles, wie es ist. Und dann knüpft auf einmal etwas an.«
Dann sieht sie wieder weg. So schnell und verschämt, als ob sie mit diesem einen kurzen Blick bereits einen Verrat an sich selbst begangen hätte. Stattdessen schaut sie hinunter auf ihre Oberschenkel, die alt und erschreckend knochig sind. Vielleicht, weil sie zum Dünnsein veranlagt
Weitere Kostenlose Bücher