Schattenriss
musste. »Und das ist, weiß Gott, nichts Neues für mich.« Sie holte Luft und blickte ihn aus ihren großen dunkelblauen Augen an. »Es ist immer dasselbe: Du schließt mich aus, ich bitte dich, es nicht zu tun, und alles, was dabei herauskommt, ist eine stundenlange Diskussion, im Zuge derer du mir weismachen willst, dass wir nicht nur das Bett, sondern auch so was wie ein Leben miteinander teilen.« Sie machte eine Pause, vielleicht, weil sie auf Widerspruch hoffte. Doch Verhoeven schwieg eisern. »Okay, dann sag mir nur eins«, forderte sie ihn auf, als ihr klar wurde, dass er nicht von sich aus reden würde. »Was bin ich eigentlich für dich?«
»Was meinst du?«
»Als was siehst du mich? Als Geliebte? Mutter deiner Tochter? Schmuckstück? Klotz am Bein?« Sie vermied es, laut zu werden. Aber ihr Ton war trotzdem überaus eindringlich. »Das ist ja alles gut und schön. Aber weißt du was? Ich wäre zur Abwechslung gern auch mal deine Partnerin.«
»Das bist du.«
»Oh, nein, das bin ich nicht.« Und zu Verhoevens größter Überraschung hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. Dabei weinte sie äußerst selten. Und niemals aus Wut. Ganz im Gegensatz zu ihm selbst, der eigentlich überhaupt nur aus Wut weinte. »Partner sind nämlich gleichberechtigt, weißt du? Sie unterstützen sich und teilen ihre Sorgen und Ängste.«
»Das tun wir doch gemeinhin.«
»Gemeinhin?« Sie lachte höhnisch auf, aber er konnte sehen, dass sie bei allem zur Schau gestellten Sarkasmus zutiefst verletzt war.
Seltsamerweise musste Verhoeven ausgerechnet in diesem Moment an die Bushaltestelle denken, an der er als kleiner Junge ausgestiegen war. Die letzte Station vor dem Abhang. Er schloss die Augen und sah den Rhein tief unter sich liegen, grau und aufgewühlt. Fühlte wieder den Regen auf seiner Stirn. Dicke, kalte Tropfen, die ihm der Wind fast waagerecht ins Gesicht trieb. Als ihm bewusst wurde, dass er drauf und dran war, seiner Frau auszuweichen, machte er die Augen wieder auf.
»Silvie, bitte«, sagte er, indem er die Hand nach ihr ausstreckte. »Ich teile wirklich fast alles mit dir. Aber über diese Sache möchte ich einfach nicht sprechen, okay?«
»Warum nicht?«
»Weil es vorbei ist.«
»Nein«, rief sie leidenschaftlich. »Wenn es vorbei wäre, würdest du Ruhe finden. Aber du findest keine Ruhe. Irgendetwas an deiner Vergangenheit lässt dich nicht los. Und es ist etwas, das sich ganz offenbar auch nicht verdrängen lässt, selbst wenn du dich noch so sehr darum bemühst.«
Verhoeven hatte das Gefühl, dass der Raum um ihn herum enger wurde. Als er es nicht mehr aushielt, stand er auf und ging an ihr vorbei zur der hölzernen Truhe, auf der seine Sachen lagen. »Es ist dieser Fall, der mich fertig macht.«
»Unsinn!«, fegte Silvie seinen neuerlichen Ausbruchsversuch mit der ihr eigenen Entschlossenheit vom Tisch. »Es ist nicht nur dieser Fall.«
Da war ein neuer Klang in ihrer Stimme. Eine Nuance, die Verhoeven nie zuvor an seiner Frau bemerkt hatte und über deren Bedeutung er sich nicht restlos im Klaren war. Was war das? Etwa Resignation? Aber das konnte nicht sein! Immerhin standen Silvie und er im Grunde noch immer ganz am Anfang ihrer Ehe. Ihr gemeinsames Leben hatte doch gerade erst begonnen.
»Na schön, Hendrik«, sagte sie, indem sie den Hocker, den sie sich geholt hatte, beiseitestellte und wieder auf ihre eigene Bettseite hinüberging. Und dieses Mal war Verhoeven sicher, dass es tatsächlich Resignation war, was er hörte. Etwas, das ihn mit einer tiefen Beunruhigung erfüllte. »Ich kann dich nicht zwingen, so viel immerhin habe ich in den fünfeinhalb Jahren unserer Ehe kapiert. Es gibt da irgendetwas, das du durchstehen musst. Immer und immer wieder. Du musst es hinter dich bringen. Und wenn ich Glück habe, bekomme ich am Ende dieses ...«, Silvie hielt inne und suchte eine Weile nach dem passenden Wort, »... dieses Fiebers den Mann zurück, den ich geheiratet habe. Das ist das Einzige, worauf ich hoffen kann.«
»Silvie, ich ...«, setzte er an.
Doch seine Frau lag bereits wieder und schien entschlossen, ihn nicht mehr zu Wort kommen zu lassen. »Vergiss es!«, sagte sie.
Dann drehte sie sich auf die Seite und zog sich die Decke über den Kopf.
2
»Nun ist es also amtlich«, verkündete Richard Goldstein, der heute zu Verhoevens Unbehagen ganz in Schwarz gekleidet war, am frühen Nachmittag. Allerdings hatte er sich rasiert und wirkte ein wenig ausgeruhter als
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