Schattenriss
zu sein, und das Telefon klingelte ins Leere. Was jetzt?, dachte Verhoeven. Seine Frau hatte einen Kurs an der Uni und würde erst gegen sieben zurück sein. Und selbst wenn er sie auf dem Handy erreichte, was nicht sehr wahrscheinlich war, würde sie um diese Uhrzeit mindestens fünfundzwanzig Minuten brauchen, bis sie zu Hause war. Und nehmen Sie um Gottes willen nicht die Wilhelmstraße , stimmte ein imaginärer Hinnrichs ihm zu. Diese ganze verdammte Stadt versinkt im Chaos ...
Verhoevens Blick heftete sich auf das Telefonverzeichnis neben dem Faxgerät.
»Kann ich mitfahren?«, fragte Nina, die ihm gefolgt war, hoffnungsvoll.
Er atmete tief durch und drehte sich zu ihr um. »Nicht heute.« »Warum nicht?«
»Weil es nicht geht.« Inzwischen hatte er sich einigermaßen im Griff, nichtsdestotrotz klang seine Stimme ein ganzes Stück schroffer als beabsichtigt. Doch ihm blieb keine Zeit, den Eindruck zu korrigieren. Was mache ich?, dachte er in wachsender Verzweiflung. Wer könnte helfen? An wen, verdammt noch mal, kann ich mich wenden? Seine Schwiegereltern wohnten in Langen, viel zu weit entfernt, als dass er sie hätte bitten können, eben mal auf einen Sprung vorbeizukommen. Ähnliches galt für seine Schwägerin, die mit ihrem Mann und den vier gemeinsamen Kindern ein elegantes Einfamilienhaus in Frankfurt bewohnte. Verhoevens Zeigefinger wischte ziellos über die Ablage der Garderobe. Doch wen sonst konnte er bitten, auf seine Tochter aufzupassen? Die Tagesstätte schloss in wenigen Minuten und ...
»Aber ich bin auch ganz still«, startete Nina hinter ihm einen neuen Versuch, ihren Vater zu überreden.
»Ich habe gesagt, dass es nicht geht«, fuhr Verhoeven sie an, und voller Schrecken hörte er den Tonfall seines Pflegevaters hinter seinen Worten aufblitzen. »Bitte, Schatz«, begann er hilflos, indem er in die Knie ging, um seiner Tochter in die wachen braunen Augen blicken zu können. »Wir haben da einen Notfall, verstehst du, und das bedeutet ...«
»Ich könnte vielleicht zu Dominik«, unterbrach sie ihn mit unbewegter Miene, doch in ihren Augen lag ein Ausdruck von Reife, der Verhoeven frösteln ließ. »Die Nummer hat Mama da hingehängt.«
Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger zum Garderobenspiegel, an dessen Rand seine Frau traditionell eine Reihe von Haftzetteln befestigte. Nummern von Freundinnen, Lieferanten, die Durchwahl des zuständigen Schornsteinfegers und, und, und. Nachdem er sich einen raschen Überblick verschafft hatte, pflückte Verhoeven den untersten der Zettel ab und wählte die Nummer von Adrian und Theophila Rieß-Semper.
»Jo?«, meldete sich nach kurzem Klingeln eine glockenhelle Knabenstimme.
»Hallo, Dominik«, sagte Verhoeven mit einem ungeduldigen Blick auf die Uhr. »Hier ist Verhoeven. Hendrik Verhoeven.«
»Oh ... Hi!«, antwortete der Junge, hörbar überrascht. »Wie geht’s Ihnen?«
»Gut, danke«, entgegnete Verhoeven hastig. Und in Gedanken fügte er hinzu: Tut mir leid, aber ich fürchte, das hier ist nicht der richtige Zeitpunkt für Small Talk, mein Freund . Laut sagte er: »Du, hör mal, sind deine Eltern in der Nähe?«
»Meine Mum ist beim Reiki«, erklärte Dominik, und sein Tonfall ließ ein entschiedenes Unverständnis in Bezug auf die Freizeitgestaltung seiner Mutter erkennen. »Aber ich glaub ...« Er unterbrach sich, und Verhoeven hörte einen dumpfen Schlag, der offenbar davon herrührte, dass dem Jungen irgendetwas heruntergefallen war. »Boahhh, so ’ne verdammte Scheiße«, klang es gleich darauf aus dem Hörer, und Verhoeven fühlte sich unwillkürlich an seinen eigenen Ausbruch erinnert. Es folgte eine kurze Verlegenheitspause, gefolgt von einem lauten, entschlossenen: »Papa! ... Papaaaaaaaa! Telefoooon!« Verhoeven hörte den Jungen stöhnen, vielleicht, weil er sich nach dem heruntergefallenen Gegenstand bückte. Vielleicht auch, weil sein Vater nicht schnell genug reagierte. »Papaaaaaaaaaaa«, wiederholte Dominiks wohlklingendes Knabenstimmchen in diesem Moment wie zur Bestätigung der letzteren Möglichkeit. »Jetzt komm endlich! ... Ko-hommmm!«
»Was denn?«
Nuscheln.
»Was? ... Wer ist denn das?«
Auch dieses Mal konnte Verhoeven Dominiks Antwort nicht verstehen, aber er hätte den dicken Kindergartenfreund seiner Tochter am liebsten umarmt, als sich ein paar Augenblicke später tatsächlich Adrian Rieß-Sempers sonorer Bass meldete.
»Herr Verhoeven?« Es klang zweifelnd, wie er das sagte. Offenbar traute
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