Schattenriss
»Winnie?«
Bei der Erwähnung des vertrauten Namens blickte seine Tochter mit einer Mischung aus Neugier und freudiger Überraschung hoch.
»Ja, Winnie«, bestätigte derweil Hinnrichs.
»War sie ...«
»Nein«, entgegnete der Leiter des KK 11 der zentralen Kriminaldirektion Wiesbaden, ohne Verhoevens Frage abzuwarten. Er war ein typischer Hochbegabter, ständig unter Strom und ebenso ungeduldig wie rücksichtslos, wenn ihm ein Gespräch nicht schnell genug voranging. »Wie’s aussieht, ist sie einzig und allein durch einen dummen Zufall in diese Sache hineingezogen worden. Sie telefonierte gerade mit Bredeney, als der Überfall losging. Leider konnten die Täter zusammen mit den Geiseln unerkannt entkommen.« Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: »Es hat auch einen Toten gegeben. Einer der Bankangestellten. Das SEK fand seine Leiche in der Schalterhalle, Kopfschuss.«
»So eine gottverdammte Scheiße«, entfuhr es Verhoeven, und Nina, die ihr zartes Händchen bereits ausgestreckt hatte, um ihrem Vater das Handy aus der Hand zu nehmen, hielt mitten in der Bewegung inne.
Verhoeven hatte sich in den vergangenen fünfeinhalb Jahren einigermaßen mühevoll dazu erzogen, auf den Gebrauch von Flüchen und unflätigen Wörtern zu verzichten, solange er sich in seinen eigenen vier Wänden aufhielt, und am Ausdruck ihrer Augen konnte er sehen, dass seine Tochter durch seine unerwartete Reaktion aufs Äußerste alarmiert war. Wie die meisten Kinder besaß Nina ein ausgeprägtes und noch gänzlich unverstelltes Gespür für Untertöne, und Verhoeven hätte sich am liebsten eine schallende Ohrfeige verpasst, dafür, dass er sich nicht besser im Griff hatte.
»Fahren Sie sofort los, wir treffen uns vor der Filiale«, riss die schnarrende Stimme seines Vorgesetzten ihn aus seinen Selbstvorwürfen. »Und nehmen Sie um Gottes willen nicht die Wilhelmstraße.«
»Warum nicht?«
»Weil da alles komplett dicht ist.«
»Was genau meinen Sie mit dicht?«, hakte Verhoeven nach. »Wegen dieses Überfalls?«
»Nicht doch.« Hinnrichs stieß ein freudloses Lachen aus. »Nahe zu zeitgleich hat irgendein Irrer am Kochbrunnenplatz auf Passanten geschossen. Wir haben elf Verletzte, alle mit Schusswunden im Bereich der Beine.«
»Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen?«, fragte Verhoeven, der zunehmend Mühe hatte, zu begreifen, was er da gerade hörte.
»Das wissen wir noch nicht«, wischte sein Vorgesetzter die Frage mit der ihm eigenen Entschlossenheit vom Tisch. »Fest steht nur, dass dieser Vorfall unseren Geiselnehmern in bemerkenswerter Weise den Rücken freigeräumt hat, um es mal vorsichtig auszudrücken.« Er lachte wieder. Eine seltsame Mischung aus Resignation und Galgenhumor. »Schon zwei Minuten nach der Registrierung der ersten Notrufe ging zwischen Taunusstraße und Rhein-Main-Halle nichts mehr, wie Sie sich denken können. Und selbst jetzt haben die Kollegen vom SEK alle Mühe, auch nur bis in die Nähe dieser verdammten Filiale vorzudringen.«
Alle Achtung, dachte Verhoeven, wenn diese Sache tatsächlich geplant war, ist sie zweifelsohne ein genialer Schachzug! Laut sagte er: »Gut, ich bin unterwegs.«
»Alles klar, bis gleich.«
Verhoeven drückte auf die Taste, die das Gespräch beendete, und schob das Handy in die Halterung an seinem Gürtel.
»Was ist?«, fragte seine Tochter mit bangem Blick.
»Es gibt ein Problem auf der Arbeit«, versuchte es Verhoeven mit einem Teilgeständnis, wobei er inständig hoffte, dass ihr investigativer Verstand sich von der betont beiläufigen Miene, die er aufgesetzt hatte, täuschen ließ.
»Und ...?«
»Und deshalb muss ich leider noch mal weg.«
»Ist Winnie auch da, wo du hinfährst?«, insistierte Nina.
Verhoeven nickte, obwohl er nichts mehr verabscheute, als sein eigenes Kind anzulügen. Noch dazu eines, das ein so großes Interesse an dem sprichwörtlichen Blick hinter den Spiegel hatte wie seine Tochter. Doch in diesem speziellen Fall, das wusste er, ließ sich eine kleine Notlüge nicht vermeiden. Selbst dann nicht, wenn er damit das Risiko einging, dass er ihr Vertrauen verlor.
Ohne seine Tochter anzusehen, stand er auf und ging in den Flur hinüber. Dort wählte er die Nummer von Else Pratt, einer Nachbarin, die hin und wieder auf Nina aufpasste, wenn Silvie und er eingeladen waren oder einfach mal ein paar Stunden für sich allein brauchten. Doch die rettende Tante Else schien an diesem milden Vorfrühlingsabend nicht zu Hause
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