Schattenriss
Keine Nachbarn. Rissiger Asphalt. Kabelbinder. Klebeband.
Eine gelungene Flucht. Ein ruinierter Haarschnitt. Ein abwesender Filialleiter. Und irgendwo, vierundzwanzig mal sechzig Sekunden entfernt, ihre Kollegen. Wahrscheinlich standen sie bereits jetzt, in diesem Augenblick, in der marmornen Schalterhalle, zogen ihr Handy unter dem Blumenkübel hervor, analysierten die Bänder der Überwachungskameras und sicherten die Spuren, um zu verstehen, was selbst sie als unmittelbar Beteiligte noch immer nicht begreifen konnte.
Haben Sie den Alarm ausgelöst?
Winnie Heller stand vollkommen unbewegt, als ein paar Meter hinter ihr die Schiebetür des Vans ins Schloss rumpelte. Dann fühlte sie abermals eine Hand auf ihrem Körper, dieses Mal direkt zwischen ihren schmerzenden Schulterblättern.
»Vorwärts!«
Das galt ohne Zweifel ihr.
»Geh!«
Winnie Heller stolperte weiter, blind, desorientiert und dirigiert von einer Berührung, die sie am liebsten abgeschüttelt hätte wie ein lästiges Insekt.
Aber sie wusste, sie durfte nicht auffallen. Nichts tun, das irgendwie Verdacht erregte.
Also ging sie vor ihm her, unsicher einen Schritt vor den anderen setzend, geradewegs ins Ungewisse.
8
Die Medien sprachen von einem »heimtückischen Anschlag«, und einige Kommentatoren spekulierten bereits über die Existenz eines geistesgestörten Heckenschützen, der wahllos und aus purem Sadismus auf unbescholtene Bürger feuerte, um anschließend spur- und gesichtslos wieder in der Versenkung zu verschwinden. Erinnerungen an John Allen Mohammad wurden heraufbeschworen, jenen Golfkriegsveteran, der vor sechs Jahren in Washington zusammen mit seinem minderjährigen Komplizen zehn Menschen durch gezielte Schüsse getötet und eine Reihe weiterer Personen verletzt hatte. Und nahezu jedem, der an diesem milden Vorfrühlingsabend in den Straßen der Stadt unterwegs sein musste, war bewusst, dass, wer immer für die Schüsse auf dem Kochbrunnenplatz verantwortlich war, jederzeit und überall wieder zuschlagen konnte.
Doch all das bekam Verhoeven nur am Rande mit. Mit Ach und Krach war es ihm gelungen, sich durch die noch immer heillos verstopften Straßen rund um den Kochbrunnenplatz zu kämpfen. An der Einfahrt zur Hohenzollernstraße hielt er einem schwarz gekleideten Beamten mit schusssicherer Weste seinen Dienstausweis unter die Nase und wartete geduldig, bis der Mann die Daten über Funk an irgendeinen unsichtbaren Vorgesetzten weitergegeben hatte. Während er auf die Freigabe wartete, blickte der Beamte starr geradeaus, die Augen auf irgendeinen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Hauswand gerichtet. Irgendwann legte er einen Finger gegen den Knopf in seinem Ohr, um besser verstehen zu können, dann nickte er und winkte Verhoeven vorbei.
Das Gelände rund um die Filiale war weiträumig abgesperrt. Uniformierte Polizisten hielten die inzwischen bereits zu Dutzenden erschienenen Reporter auf Abstand. Am anderen Ende der Straße erkannte Verhoeven hinter einem gelben Absperrband das Antennengewirr eines Ü-Wagens. Die Anzahl der am Bordstein geparkten Einsatzfahrzeuge wirkte dagegen auf den ersten Blick überschaubar. Zwei Streifenwagen, ein Polizeibus mit getönten Scheiben, Feuerwehr, Rettungsdienst. Verhoeven bemerkte, dass er mit jedem Meter, den er sich der Filiale näherte, langsamer wurde, bis der Wagen kaum mehr Schritttempo fuhr. Das rote Sparkassenlogo über dem Eingang der Filiale stach ihm entgegen wie eine Warnung, die er am liebsten einfach ignoriert hätte, und zum ersten Mal im Leben fiel ihm auf, dass es wie ein umgekehrtes Fragezeichen aussah.
In einiger Entfernung war ein gepanzerter Transporter mit verspiegelten Scheiben abgestellt, vermutlich eine Art mobile Einsatzzentrale. Der Wagen wirkte in etwa so unauffällig wie ein Weihnachtsmann auf den Malediven, ein Umstand, der Verhoeven irgendwie nervös machte, auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass die Männer, die seine Kollegin entführt hatten, längst über alle Berge waren. Zumindest hier, dachte er, können wir keine Fehler mehr machen. Aber er war nicht sicher, ob die Erkenntnis ihn beruhigte. Von unterwegs hatte er Silvie eine SMS geschickt und sie gebeten, auf dem Rückweg von der Uni bei den Sempers vorbeizufahren und Nina abzuholen. Warum es nötig gewesen war, ihre gemeinsame Tochter in die Obhut von Dominiks Eltern zu geben, hatte er nicht geschrieben. Genau genommen wusste er es ja selbst noch nicht genau.
Er hielt
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