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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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gewissen Verwunderung registrierte. Blind und orientierungslos stolperte sie vorwärts.
    »Achtung, Stufe.«
    Der Griff an ihrem Arm wurde noch ein wenig fester. Und doch unterschied er sich in seiner beinahe rücksichtsvollen Vorsicht deutlich von den Berührungen der Männer, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte.
    »Gut so, und jetzt da stehen bleiben.«
    Er ließ von ihr ab, und nachdem seine Hand fort war, hatte Winnie erhebliche Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Ihre gefesselten, noch immer fast gänzlich ertaubten Hände zogen sie rückwärts wie ein Gewicht, das sie einfach nicht abschütteln konnte, sie fühlte sich wacklig und hilflos. Zugleich bemühte sich ihr Verstand um eine erste Analyse der Sachlage. Punkt eins: Sie befanden sich definitiv unter freiem Himmel, also nicht etwa in einer Tiefgarage oder etwas in dieser Richtung, was vermutlich bedeutete, dass es dort, wo man sie hingebracht hatte, keine Nachbarn gab, die hätten aufmerksam werden können. Punkt zwei: Der Boden, auf dem sie stand, war hart, aber reichlich uneben. Falls es sich also um Asphalt handelte, konnte er in keinem allzu guten Zustand sein. Winnie Heller bewegte die Fußspitzen und lauschte auf das Knirschen unter ihren Sohlen. Sand vielleicht. Oder gesplittertes Glas. Und ...
    »Aua, verdammt!«
    Winnie erstarrte, als die Brünette direkt vor ihr auf den sandigen Boden krachte. Sie konnte die Körperwärme der anderen selbst durch den Stoff ihrer Jeans spüren und hätte am liebsten zugegriffen, um der Frau auf die Beine zu helfen.
    »Hoch mit dir! Na los!«
    »Ich ...«
    »Quatsch nicht! Hoch!«
    Diese elenden Dreckskerle, echauffierte sich Winnie Heller im Stillen, und obwohl sie nicht das Geringste sehen konnte, hatte sie das Gefühl, dass die brünette Bankangestellte in ganz ähnlicher Weise reagierte wie sie selbst. Dass sie wütend war über das, was mit ihnen geschah. Unendlich wütend ...
    Aber Wut war der denkbar schlechteste Ratgeber in einer Situation wie dieser. Auch das war Winnie Heller klar. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf ihre Eindrücke. Auf jenen kurzen Moment, in dem sie an den Silhouetten ihrer Peiniger vorbei in den vorabendlichen Himmel hatte sehen können. War da nicht auch ein Gebäude gewesen? Oder irgendetwas sonst, das ihr einen Hinweis auf Örtlichkeiten geben konnte? Sie überlegte fieberhaft, doch ihr wollte nichts einfallen. Nichts als eine Reihe menschlicher Schatten im Rechteck der Schiebetür.
    Aber natürlich ist da ein Gebäude, versuchte sie, die Sache mit Logik anzugehen. Es muss da sein. Schließlich können sie uns kaum in einem Erdloch im Wald verstecken. Nicht sieben Personen ... Also Geräusche! Das Klebeband über ihren Lidern knisterte, als sie den Kopf hob. Okay, was für Geräusche? Sie hielt den Atem an und lauschte. Autos? Verkehrslärm? Eher nicht. Und auch keine Vögel oder sonstige Naturgeräusche. Oder? Da war irgendein leises Motorengeräusch von fern, wahrscheinlich ein Flugzeug im Landeanflug auf den Frankfurter Flughafen. Aber die konnte man nahezu überall in dieser Gegend in ähnlicher Weise hören.
    Und sonst?
    Herrgott, jetzt halt doch einmal deine verdammte Klappe!, dachte Winnie entnervt, als in diesem Moment das Wimmern der Dicken aufs Neue losbrach.
    Aber die Frau mit dem Einkaufsroller kümmerte sich nicht um ihre stummen Flüche. Im Gegenteil, die Intensität ihrer Weh klagen schien sich sogar noch zu steigern, vielleicht, weil auch ihr die Augen verklebt wurden.
    »Halt’s Maul, du fette Kuh!«, schrie einer der Entführer sie an.
    Dann ertönte ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem erstickten Keuchen.
    Sie sind weiß Gott nicht zimperlich, dachte Winnie mit wachsender Sorge. Und sie sind ganz offenbar wild entschlossen, erst gar keine Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wer hier der Boss ist. Wir müssen vorsichtig sein!
    Sie hielt erstaunt inne, als ihr klar wurde, dass sie den Plural verwendet hatte.
    Wir müssen vorsichtig sein. Wir, die Opfer. Die Geiseln. Aber standen diese Fremden und sie tatsächlich auf einer Seite, nur weil sie sich in der Gewalt derselben Männer befanden? Waren sie automatisch Verbündete, allein deshalb, weil sie einen gemeinsamen Gegner hatten? Das gemeinsame Ziel zu überleben? Winnie Heller dachte an das Wimmern der Dicken und die Wut der Kassiererin. Selbst wenn sie zusammenhielten ... Welche Chancen würden sich ihnen bieten? Was waren die Optionen? Wie würden die Bedingungen aussehen?
    Ein freier Himmel.

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