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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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versuchte sie ihr Bestes. Zunächst krümmte sie für jede volle Minute einen ihrer mittlerweile fast ertaubten Finger, doch irgendwann gab sie diese lediglich auf den ersten Blick hilfreiche Gedächtnisstütze auf und verließ sich nur noch auf ihr Gedächtnis. Achtundfünfzig, neunundfünfzig, sechzig. Dreizehn. Zwei, drei, vier ... Je länger die Fahrt dauerte, desto langsamer schien Winnie Heller das, was sie tat, zu werden. Trotzdem widerstand sie ganz bewusst der Versuchung, das Tempo allzu sehr anzuziehen. Ihr Wunsch, zu einem wie auch immer gearteten Ende zu kommen, ein Ziel zu erreichen, durfte auf keinen Fall dazu führen, dass sie ihr wahres Zeitempfinden dahinter zurückstellte. Also weiter, gleichmäßig, gegen die Musik, gegen den eigenen Puls. Sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtund... Winnie stöhnte, als ihre ungeschützte Stirn gegen die Kante schlug, mit der sie bereits zuvor unfreiwillig Bekanntschaft geschlossen hatte. Der Fahrer hatte die letzte Kurve eine ganze Spur zu eng genommen, und der Van geriet ein paar flüchtige Augenblicke lang bedenklich ins Schleudern, bevor die nächste Beschleunigung Winnie Heller zurückwarf, ins Dunkel, das mit jeder Minute, die verstrich, an Fassbarkeit verlor. Begriffe wie rechts und links, oben und unten verkamen zu nutzlosen Worthülsen, die allesamt die gleiche Machtlosigkeit zu bezeichnen schienen. Das gleiche Ausgeliefertsein.
    Zähl weiter, verdammt noch mal!, rief Winnie sich selbst zur Ordnung, weil ihr klar war, dass der Rhythmus, den sie gefunden hatte – so falsch er auch sein mochte –, das Seil darstellte, an dem sie sich entlanghangeln konnte. Der einzige Halt in ihrer augenblicklichen Situation. Die einzige Konstante.
    Sie war bei vierundzwanzig mal sechzig, als der Van endlich stoppte. Zu lange, um noch präzise zu sein, wie ihr schmerzlich bewusst war. Mit dem Motorengeräusch erstarb auch die Musik, und die plötzliche Stille schien die Dunkelheit im Inneren des Fluchtfahrzeugs noch zu vertiefen.
    Dann allerdings, nach ein paar quälenden Sekunden absoluter Lautlosigkeit, begann sich wie auf ein geheimes Kommando hin rings um Winnie Heller das Leben der anderen zu regen.
    »Verfluchter Mist«, stöhnte jemand, eine Frau.
    »Und jetzt?« Das war ein Mann, einer, den Winnie Heller bislang noch nicht sprechen gehört hatte. »Was jetzt?«
    Abwarten, gab sie ihm in Gedanken zur Antwort, während sie versuchte, sich ein Stück aufzurichten und ihre ramponierten Gliedmaßen zu ordnen. Ihre Arme waren mittlerweile bis hoch zu den Schulterblättern eingeschlafen, und auch ihr rechter Fuß fühlte sich an, als gehöre er zu einer fremden Person. Darüber hinaus registrierte sie einen entfernten Schmerz in ihrem Körper, dem sie jedoch – zumindest im ersten Moment – nicht einmal eine Stelle zuordnen konnte. Sie bemühte sich, ihre Finger zu bewegen, aber außer einem wattigen Kribbeln war nichts zu spüren. Unter Aufbietung aller Kräfte zog sie die Beine enger an den Körper, um im Notfall schneller reagieren zu können. Dann drehte sie sich dorthin, wo sie die Tür vermutete.
    Als eine fremde Schulter ihren Busen streifte, zuckte sie erschrocken zurück.
    »Verzeihung.« Wieder eine Männerstimme.
    »Keine Ursache«, entgegnete sie mechanisch. Und überhaupt: Wer wollte so etwas schon übel nehmen, in einer Situation wie dieser?
    In der entgegengesetzten Ecke begann das Wimmern, das Winnie Heller bereits während der Fahrt gehört hatte, aufs Neue. Im Stillen tippte Winnie auf die Dicke mit dem Trolley, und sie überlegte, ob sie etwas sagen, ihre Mitgefangenen beruhigen und ihnen Mut zusprechen sollte. Aber irgendetwas hielt sie davon ab. Es konnte verdammt gefährlich sein, das Ruder in die Hand zu nehmen, bevor sie wusste, worum es hier eigentlich ging. Ganz abgesehen davon, dass ihre Brieftasche mitsamt dem verräterischen Dienstausweis nach wie vor in der Tasche ihrer Jeans steckte. Und schon allein aus diesem Grund war es wahrscheinlich das Klügste, wenn sie sich so unauffällig wie möglich verhielt.
    Der Kerl mit dem Kabelbinder hatte sie einer flüchtigen Leibesvisitation unterzogen, wobei er jedoch nicht allzu gründlich vorgegangen war. Winnie vermutete, dass der Mann bei den anderen Geiseln in ähnlicher Weise vorgegangen war und dass die Durchsuchung in erster Linie dem Zweck gedient hatte, den Gefangenen eventuell vorhandene Handys oder Pager abzunehmen.
    »Was haben die mit uns vor?«
    Das war die Dicke mit dem

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