Schattenriss
nicht umstimmen können, fuhr es ihr durch den Sinn. Er hat seine Entscheidung bereits getroffen. Sie dachte an den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er sie einfach stehen lassen hatte. Und an die Worte, die seinen Abgang begleitet hatten: Es hat keinen Sinn mehr. Und: Ich glaube, ich hätte ihn nach dem Warum gefragt ...
»Fragen Sie ihn«, schrie sie, als sie sah, dass Alpha den Kopf wandte. »Jetzt haben Sie doch die Gelegenheit, auf die Sie gewartet haben!« Die Hauptsache war, dass sie Zeit gewann. Zeit, in der die Kollegen handeln konnten. »Fragen Sie ihn, warum er Ihrer Mutter das angetan hat!«
Doch der Mann, den sie Alpha nannte, ignorierte die Aufforderung. Stattdessen trat er einen Schritt zurück und musterte Abresch von oben bis unten.
»Zum letzten Mal«, rief Winnie Heller. »Nehmen Sie die Waffe runter!«
Vielleicht sind nur Platzpatronen drin, dachte sie, während die Pistole in ihrer Hand schwerer und schwerer wurde. Und dann: Ich mag ihn. Ich möchte nicht schießen. Ich will, dass das hier irgendwie anders geht. Besser ...
»Helfen Sie mir«, rief Abresch, als der Geiselnehmer ihm bedeutete, vor ihm herzugehen. Richtung Grube. »Lassen Sie nicht zu, dass er ...«
»Halt’s Maul«, entgegnete Alpha in verächtlichem Ton.
Doch Abresch gab noch nicht auf. Im Gehen machte er plötzlich einen wieselflinken Schritt zur Seite und ließ sich auf den Boden fallen.
Alpha fuhr herum.
»Nein!«, schrie Winnie Heller. »Tun Sie’s nicht! ... Bitte!« Doch der Geiselnehmer hob den Daumen und entsicherte seine Waffe.
»Nicht!«
Von der mittleren Tür her näherte sich das Poltern von Springerstiefeln, und Winnie Heller drückte ab. Sie sah, wie der Geiselnehmer auf die Knie sank und fühlte eine eisige Kälte, als sie ohne Rücksicht auf die Regeln ihrer Ausbildung auf den leblosen Körper zustürzte. Doch zu diesem Zeitpunkt atmete der Mann, den sie Alpha nannte, bereits nicht mehr.
15
»Na?«, fragte Verhoeven besorgt. »Geht’s wieder?« Winnie Heller nickte.
»Es war nicht Ihr Schuss, der ihn getötet hat«, sagte Verhoeven, doch er konnte sehen, dass sie ihm nicht glaubte. Aber das zumindest würde die Zeit mit sich bringen. Das ballistische Gutachten. Immerhin das.
In ihrem Rücken wurde eben Maik Voigts Leiche abtransportiert. Abresch alias Hans Selinger war von den SEK-Kollegen zu einem Krankenwagen geführt worden und saß nun, warm in eine helle Wolldecke eingepackt, auf der Liege im Fond.
»Ich danke Ihnen«, sagte er, als sie an ihm vorbeikamen.
Winnie Heller blieb stehen. »Wofür?«, fragte sie.
»Dafür, dass Sie mein Leben gerettet haben.«
»Es ist mein Job, das Leben zu beschützen«, entgegnete Winnie Heller mit einem Anflug von Abscheu angesichts der Gleichgültigkeit in seinem Blick. »Schuldig oder unschuldig spielt dabei keine Rolle.«
Der ehemalige Stasioffizier lächelte. » Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht, wer die Menschen verteidigt, hat immer recht«, zitierte er aus dem Lied von der Allmacht der Partei, doch er widerstand der Versuchung, die Worte zu singen.
»Halten Sie die Klappe«, sagte Winnie Heller nur.
Dann wandte sie sich ab.
»Gott sei Dank«, rief Hinnrichs, als er seine beiden Kommissare kommen sah. Und indem er Winnie Heller flüchtig in den Arm nahm, fügte er hinzu: »Wir waren außer uns vor Sorge.«
»Unkraut vergeht nicht«, lächelte Winnie, und der Satz rief Verhoeven unvermittelt wieder in Erinnerung, was der Erstürmung der Fabrikanlage vorausgegangen war.
»Wie geht es Lübke?«, fragte er.
Burkhard Hinnrichs schüttelte den Kopf. »Nicht gut.«
Verhoeven spürte, wie sich Winnie Hellers Körper verkrampfte. »Was ist mit ihm?«, fragte sie mit einer Stimme, die irgendwie kindlich klang. Vollkommen ungewohnt.
»Die Ärzte tippen auf Herzinfarkt«, antwortete Hinnrichs, indem er seine Beamtin aufmerksam musterte.
»Herzinfarkt?« Winnie Heller biss sich auf die Lippen. »Ist er ...?«
»Soweit ich informiert bin, haben sie ihn in die Mainzer Uniklinik gebracht.«
Verhoeven nahm seine Partnerin am Arm. »Möchten Sie vielleicht ... Ich meine, ich könnte Sie hinfahren.«
Für einen Augenblick glaubte er zu sehen, dass ihr eine ihrer üblichen kratzbürstigen Antworten auf der Zunge lag. Nicht nötig, bemühen Sie sich nicht , etwas in dieser Richtung. Doch schließlich nickte sie nur.
»Es ist doch in Ordnung, wenn wir ...« Verhoeven sah seinen Vorgesetzten an.
»Sicher«, nickte Hinnrichs.
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