Schattenriss
fernen Tages Polizeipräsident oder doch zumindest Leiter des Polizeilichen Staatsschutzes zu werden.
»Brennicke?« Hinnrichs’ stahlblaue Augen nahmen den Assistenten des Genannten ins Visier wie ein Wild, das es mit einem einzigen gezielten Schuss zu erlegen galt. »Ich hatte eigentlich gedacht, dass Goldstein ...«
»Goldstein führt die Verhandlungen«, entgegnete Jens Büttner kühl. »Die Einsatzleitung liegt bei Brennicke.«
Hinnrichs zog die Brauen hoch, verkniff sich jedoch jeglichen Kommentar zu dieser wenig nachvollziehbaren Entscheidung.
»Wenn Sie mir dann bitte folgen würden?«, bat der junge Beamte übertrieben höflich, wobei er auf den verspiegelten Transporter deutete, in dem sich offenbar tatsächlich so etwas wie eine improvisierte Zentrale befand. »So, wie die Dinge liegen, sollten wir so schnell wie möglich alle ...«
»Bevor wir hier irgendjemandem Rede und Antwort stehen, sehen wir uns den Ort des Geschehens an«, fiel Hinnrichs ihm abermals ins Wort, und zum ersten Mal in den langen Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Verhoeven das Gefühl, dass sein Vorgesetzter das Wort »wir« ganz bewusst verwendet hatte.
»Zeit ist ein Gut, über das wir bedauerlicherweise nicht verfügen«, gab Büttner in arrogantem Ton zurück, wobei er eilig einen Schritt um Hinnrichs herum machte, um ihm den Weg zu verstellen.
»Stimmt«, entgegnete dieser kurz angebunden. »Und deshalb lassen Sie uns jetzt auf der Stelle vorbei, damit wir uns ein Bild von dem machen können, was sich in dieser verdammten Sparkasse zugetragen hat, verstanden, Freundchen?!«
Er wartete nicht auf Büttners Antwort, sondern schob den jungen Beamten kurzerhand beiseite und schritt dann mit der ihm eigenen Energie auf die Automatiktür mit dem charakteristischen roten Logo zu.
Verhoeven beeilte sich, ihm zu folgen.
Mittlerweile war es fast völlig dunkel, und das Licht, das aus dem Inneren der Filiale auf den Bürgersteig fiel, vermittelte eine trügerische Ruhe. Allerdings korrigierten die Silhouetten der schwarz gekleideten SEK-Beamten, die sich hinter der spiegelnden Front abzeichneten, den Eindruck schnell.
Die beiden Kriminalbeamten zeigten ihre Ausweise, und eigenartigerweise war das Erste, das Verhoeven beim Betreten der Schalterhalle auffiel, ein Geruch. Es war ein flüchtiger und dennoch äußerst intensiver Eindruck, den er zu seinem größten Bedauern je doch nicht näher fassen konnte. Wie ein Echo, dachte er. Der Nachhall von etwas, dem es erst noch auf die Spur zu kommen gilt.
Er griff sich ein Paar Überschuhe aus der Schachtel, die ein Mitarbeiter der Spurensicherung ihm hinhielt, und streifte sie über seine Mokassins. Dann richtete er sich auf und ließ die Atmosphäre der weitläufigen Schalterhalle auf sich wirken. Die meisten Beratungsterminals waren in der heute üblichen offenen Weise angelegt, aber im hinteren Teil der Filiale schien es noch Schalter von der Art zu geben, wie Verhoeven sie aus seiner Jugendzeit gewöhnt war. Unwillkürlich musste er an die verbeulte alte Kaffeedose mit dem in den Deckel geritzten Münzschlitz denken, die er zur Bank getragen hatte, jedes Jahr am Weltspartag. Hier zwei Mark fürs Rasenmähen, dort ein Fünfziger, weil er der alten Frau Keilmann die Einkaufstüten getragen hatte. Später zusätzlich kleine Beträge fürs Zeitungsaustragen, fürs Verteilen von Werbeprospekten, fürs Auflesen von Golfbällen in dem kleinen, aber hoffnungslos versnobten Club am anderen Ende der Stadt und jeden Herbst auch für Kastanien, drei Mark fünfzig pro mühsam zusammengeklaubtem Zehnkilo-Sack. Er war ein sparsamer Junge gewesen, weil er früh begriffen hatte, dass er Geld brauchen würde, um den Prügeln seines Pflegevaters zu entkommen. Den Prügeln genauso wie der Enge von Annas Küche, in der es immer irgendwie nach gekochtem Kohl und Seife gerochen hatte. Gerüche, die Verhoeven bis heute nicht ohne einen Anflug von Übelkeit ertrug.
»Da hinten ist Jensen«, rief Hinnrichs und war bereits wieder ein paar Meter voraus.
»Ich hab’s auf dem Weg hierher gehört«, begrüßte Lübkes Assistent die beiden Kollegen vom KK 11 mit teilnahmsvollem Gesicht. »Tut mir echt leid. Aber zum Glück gehen solche Sachen ja meistens gut aus.«
Solche Sachen, dachte Verhoeven.
Hinnrichs nickte nur.
»Ihr Handy lag dort drüben«, erklärte Jensen und deutete auf einen Blumenkübel, der frei im Raum stand, etwa fünf oder sechs Meter von den rückwärtigen Schaltern entfernt. »Die
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