Schattenriss
etwa zwanzig Meter hinter dem Transporter und hatte noch nicht den Motor ausgeschaltet, als bereits sein Vorgesetzter neben der Fahrertür stand.
»Es waren mindestens drei«, begann Hinnrichs ohne Umschweife, kaum dass Verhoeven ausgestiegen war. »Und nach allem, was die Kollegen bislang in Erfahrung bringen konnten, haben sie sechs oder sieben Personen als Geiseln genommen, dar unter, wie gesagt, auch Frau Heller. Nichts Genaues weiß man noch nicht. Was sie an Bargeld erbeutet haben, dürfte allerdings kaum der Rede wert sein.« Er zuckte mit den Achseln. »Alles in allem etwa dreißig- oder vierzigtausend Euro.«
»Gibt es schon irgendeinen Kontakt zu den Entführern?«, fragte Verhoeven.
Doch sein Vorgesetzter schüttelte nur den Kopf. »Bislang nichts. Aber das wird alles noch kommen«, fügte er mit energischer Entschlossenheit hinzu. »Wer Geiseln hat, der hat auch Forderungen.«
Ja, dachte Verhoeven. Vermutlich ...
»Wenn’s stimmt, was man so hört, haben sie Goldstein die Leitung übertragen«, bemerkte Hinnrichs, und nichts an seinem Ton verriet, was er darüber dachte.
Verhoeven nickte. Er war Richard Goldstein nie persönlich begegnet, aber er wusste, dass der studierte Soziologe und frühere Gerichtsgutachter schon oft erfolgreich als Unterhändler bei Geiselnahmen fungiert hatte. Ihm eilte ein ausgezeichneter Ruf voraus, auch wenn Richard Goldstein zugleich für seine unorthodoxen und zuweilen recht kühnen Methoden bekannt war.
»Hinnrichs!«
Sie drehten sich beide gleichzeitig um.
»Hey, Hinnrichs, Augenblick!«
Den Mann, der mit langen Schritten auf sie zugestürmt kam, kannte Verhoeven nur vom Sehen, aber nach allem, was er über Jens Büttner gehört hatte, legte er auch keinen gesteigerten Wert auf eine Vertiefung ihrer Bekanntschaft. Der als eitel und krankhaft ehrgeizig verschriene BKA-Beamte war ein paar Jahre jünger als er selbst, dem Vernehmen nach irgendwo zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig. Dennoch hatte er bereits eine beachtliche Karriere in der Abteilung für Schwere und Organisierte Kriminalität des Bundeskriminalamtes vorzuweisen, wobei böse Zungen behaupteten, Büttners mit Abstand herausragendste Fähigkeit sei das Absondern großer Mengen von Schleim an den richtigen Stellen. Das dunkle, von Natur aus lockige Haar des jungen BKA-Beamten war mit reichlich Gel eng an den Kopf frisiert, und in seiner schwarzen Fliegerjacke und den gleichfarbigen Markenjeans wirkte Jens Büttner wie eine Idealbesetzung für Top Gun II.
»Was, um Himmels willen, haben die denn hier verloren?«, stöhnte Hinnrichs.
Doch Verhoeven kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten.
»Wie gut, dass Sie gleich kommen konnten«, begrüßte Jens Büttner seinen Vorgesetzten, indem er Hinnrichs wie selbstverständlich eine seiner perfekt gepflegten Hände auf die Schulter legte. »Wir denken, dass es ...«
»Eine meiner Beamtinnen befindet sich in der Hand von schwer bewaffneten Geiselnehmern«, fiel der Leiter des KK 11 dem jungen BKA-Mann mit steinerner Miene ins Wort. »Was, glauben Sie, könnte mich davon abhalten, mich sofort in ein Auto zu setzen, um meinen Beitrag zu den Ermittlungen zu leisten?«
Jens Büttner stutzte einen Augenblick. Dann ließ er Hinnrichs’ Schulter los, als fürchte er, einen elektrischen Schlag zu bekommen. »Ja natürlich, selbstverständlich«, sagte er, und seiner Stimme war der Ärger über die versteckte Maßregelung deutlich anzuhören, auch wenn er sich nach außen hin alle Mühe gab, die verbindlich-kollegiale Fassade zu wahren. »Und genau aus diesem Grund möchte Brennicke sich so schnell wie möglich mit Ihnen unterhalten, wie Sie sich vielleicht denken können.«
Hinnrichs tauschte einen Blick mit Verhoeven.
Wenn Jens Büttner unangenehm war, verkörperte Werner Brennicke zweifelsohne das, was man gemeinhin unter einer Heimsuchung versteht. Der gebürtige Frankfurter hatte nach ein paar wenig erbaulichen Jahren in einem unbedeutenden, kleinen Büro quasi über Nacht eine ebenso überraschende wie steile Karriere beim BKA gemacht. Er galt als rücksichtslos und politisch ambitioniert, wobei er geschickt genug war, sich nie auf eine bestimmte Richtung festzulegen. Hin und wieder sah man sein Gesicht in der Zeitung, meist irgendwo in zweiter Reihe hinter dem Ministerpräsidenten oder einem anderen staatlichen Repräsentanten, und falls die Gerüchte stimmten, die hinter vorgehaltener Hand die Runde machten, war er finster entschlossen, eines nicht allzu
Weitere Kostenlose Bücher