Schattenriss
etwa ein Ergebnis ihrer Magerkeit waren. Vom Alter her schätzte Verhoeven Monika Zierau auf Mitte bis Ende vierzig.
»Na, wie auch immer«, setzte Kai-Uwe Luttmann derweil seinen Bericht über seine Zusammenarbeit mit der erfahrenen Profilerin fort. »Goldstein schickt also diese Beamtin rein. Ohne Weste, versteht sich, damit der Kerl sich auch bloß nicht unnötig provoziert fühlt. Und das hat ihm beileibe nicht nur Sympathien eingetragen, das können Sie glauben. Ich sage Ihnen, die Beamtin war noch nicht über den Hof, da haben sie in der Einsatzzentrale bereits über eine Meuterei nachgedacht. Oder sonst eine Möglichkeit, Goldstein den Fall zu entziehen.«
»Wie hat er reagiert?«, erkundigte sich Hinnrichs mit offenkundigem Interesse. Wo immer jemandes Führungskompetenz angezweifelt wurde, musste er nachhaken. Nicht zuletzt, weil er selbst in seiner Abteilung jahrelang nicht unumstritten gewesen war.
»Goldstein?« Luttmann schürzte die Lippen. »Absolut professionell, würde ich sagen. Er hat sich auf den Geiselnehmer konzentriert und so getan, als bekomme er von dem ganzen Rest nicht das Geringste mit, was unter den gegebenen Umständen mit Sicherheit das Klügste war. Und siehe da: Zwei Minuten, nachdem die Beamtin ihre Pommestüte in einem Vorraum der Kita abgestellt hat und wieder verschwunden ist, fängt dieser Typ tatsächlich an zu quatschen.« Die Erinnerung entlockte dem jungen Techniker ein beinahe ungläubiges Kopfschütteln. »Ehrlich, von jetzt auf gleich redet der Kerl wie ein Wasserfall. Über seinen Vater und seinen Ausbilder und seine Exfreundin und was weiß ich noch alles. Und noch mal zwei Stunden später kommt er mit erhobenen Armen raus, nachdem er einer Vierjährigen seine Beretta in die Hand gedrückt und sie aufgefordert hat, gut darauf achtzugeben.« Luttmanns Augen suchten die passbildgroße Fotografie, die mit zwei Streifen Tesafilm neben dem Touchpad seines Laptops befestigt war. Die reichlich unscharfe Aufnahme zeigte ein blondes Baby in einem rosa Strampelanzug. »War ’ne verdammt heikle Kiste damals, das lässt sich nicht leugnen. Aber gottlob ist sie gut ausgegangen.«
Verhoeven dachte unwillkürlich daran, was Jensen vorhin in der Bank gesagt hatte.
Zum Glück gehen solche Sachen ja meistens gut aus.
»Ihre Tochter?«, fragte er mit Blick auf das Babyfoto an Luttmanns Laptop.
Der Computerspezialist bejahte.
»Wie alt ist sie?«
»Siebeneinhalb Monate.«
»Schönes Alter«, sagte Verhoeven. Und indem er sich den erschreckend reifen Blick in Erinnerung rief, mit dem seine Tochter ihn vorhin auf die Nummer von Dominiks Eltern hingewiesen hatte, fügte er in Gedanken hinzu: Solange sie Babys sind, ist es leichter, ihnen nicht wehzutun.
»Und wo genau steckt Richard im Augenblick?«, fragte Monika Zierau, die sich ungefragt einen von Luttmanns Kaugummis genommen hatte.
»Er ist vor knapp fünf Minuten in Frankfurt gelandet«, antwortete Luttmann wie aus der Pistole geschossen, und Verhoeven fragte sich, wie der junge Techniker es schaffte, im Angesicht der zahllosen Informationen auf seinem Monitor überhaupt so etwas wie einen Überblick zu behalten. »Der Hubschrauber, der ihn herbringt, steht schon bereit.«
»Und sonst?«
»Bislang nicht viel.« Luttmann nahm einen Schluck aus seiner Coladose und seufzte so tief, dass man glauben konnte, er befürchte, wegen Unergiebigkeit vom Dienst suspendiert zu werden. »Keine Forderungen, kein Versuch einer Kontaktaufnahme.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Nichts.«
Das wird alles noch kommen. Wer Geiseln hat, der hat auch Forderungen ...
Monika Zierau schien ähnlich zu denken. Zumindest zeigte die versierte Psychologin bislang keinen Anflug von Ungeduld oder gar Besorgnis. »Ist die Identität aller Geiseln mittlerweile geklärt?«, erkundigte sie sich mit Blick auf Luttmanns Monitor, auf dem jetzt wieder die Totale der Schalterhalle zu sehen war.
Der junge Softwarespezialist stellte seine Cola zur Seite und schüttelte den Kopf. »Das Einzige, was wir momentan mit einiger Sicherheit sagen können, ist, dass es sieben sind«, antwortete er. »Drei Männer und vier Frauen. Eine davon ist die Kollegin aus dem Morddezernat.«
Luttmanns Kinn wies auf ein Magnetboard an der Wand, das Verhoeven bei all der Technik, die den Raum dominierte, bislang nicht aufgefallen war. Und zu seinem größten Schrecken entdeckte er dort ein Foto seiner Partnerin.
Es war die Vergrößerung eines Passbildes und stammte aller
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