Schattenriss
eine erstaunliche Menge an Kameras«, erklärte der junge Techniker, »aber nicht alle zeichnen ständig auf. Manche sind so getaktet, dass sie nach einer Reihe von Einzelbildern erst mal eine Weile pausieren.«
»Wie sinnig«, brummte Hinnrichs.
»Ist eine nicht unübliche Praxis«, entgegnete Luttmann, indem er seinen Kaugummi in den leeren Kaffeebecher entsorgte, der neben seinem Laptop stand. Anschließend schob er sich umgehend einen frischen in den Mund.
Die nächste Sequenz, die der Beamer an die Wand warf, zeigte eine Totale des rückwärtigen Teils der Filiale, und die Tatsache, dass die Aufnahmen keinen Ton hatten, machte sie noch um ein Vielfaches grusliger. Mit einer Mischung aus ungläubiger Faszination und Betroffenheit verfolgten die anwesenden Beamten, wie die Menschen in der körnig aufgenommenen Schalterhalle von jetzt auf gleich einfach umzufallen schienen. Die Szene wirkte wie aus einem Hightech-Hollywoodthriller, in dem irgendein todbringendes Virus oder eine ultrageheime Chemiewaffe von einer Sekunde auf die andere eine ganze Kleinstadt dahinrafft.
Die digitale Zeitanzeige in der rechten oberen Ecke zeigte 16 Uhr 59 und 28 Sekunden, und Verhoevens Augen blieben an der Frau hängen, die vor seiner Kollegin am rechten der drei Schalter gestanden hatte. Der Besitzerin des roten Einkaufsrollers. Sie trug eine reichlich unförmige Jacke, eine Art Parka, und lag mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf dem marmornen Boden wie eine wohlgenährte Robbe.
Es folgte ein weiterer Umschnitt auf eine Kamera, die deutlich näher am Vordereingang der Filiale postiert sein musste. Trotzdem waren im Hintergrund noch immer die drei panzerglasverkleideten Schalter zu erkennen. Verhoeven sah seine Kollegin, die sich noch immer flach auf den Boden drückte. Genau wie die dicke Einkaufsrollerbesitzerin hinter ihr. Ein Stück weiter rechts entdeckte er den Blumenkübel, unter den Winnie Heller ihr Handy geschleudert hatte, und ihm fiel auf, dass ihm der genaue Zeitpunkt der Aktion entgangen war. Ebenso wie den Geiselnehmern, fügte er in Gedanken hinzu, und zu seiner Überraschung empfand er einen Anflug von Stolz. Darauf, dass seine Partnerin offenbar ebenso geschickt wie geistesgegenwärtig gewesen war.
Ein paar Augenblicke später blitzte am linken seitlichen Bildrand etwas auf, das wie das Mündungsfeuer einer Maschinenpistole aussah. Dann ein erneuter Umschnitt, dieses Mal auf den Eingangsbereich der Filiale, doch die Aufnahmen schienen extrem unscharf zu sein, und das Wandbild zerfaserte vor den Augen der anwesenden Beamten in ein graublaues Pixelchaos.
Luttmann, der das Ergebnis seiner Arbeit mit kritisch gerunzelter Stirn am Bildschirm seines Laptops verfolgt hatte, stieß einen unterdrückten Fluch aus und stoppte die Aufzeichnung. Das Wandbild erlosch, und auf dem Monitor seines Computers schnurrten die Bilder zurück. Die dicke Bankkundin kam wieder auf die Beine. Ebenso wie Winnie Heller. Gleich darauf flog Albert Schweh mit schwerelosen Schritten über den blanken Marmorboden an seinen Schalter zurück.
Verhoeven verfolgte die Zeitanzeige am rechten Bildrand, die in Schwindel erregendem Tempo abwärts zählte. Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte er. Ein paar harmlose Eingaben, und alles steht wieder auf Anfang. Ein einziger Knopfdruck, und die Zeit läuft rückwärts ...
Zeit ist ein Gut, über das wir bedauerlicherweise nicht verfügen , flüsterte die blasierte Stimme von Jens Büttner in seinem Kopf.
Neben ihm griff Hinnrichs in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Schachtel Light-Zigaretten heraus. Dann wandte er sich wieder an Luttmann: »Können Sie schon sagen, ob die ...«
»Verzeihung«, unterbrach ihn ein junger Beamter, den Verhoeven noch nie gesehen hatte, »aber wenn Sie rauchen wollen, müssen Sie den Raum verlassen.«
Hinnrichs sah den Mann an, als überlege er ernsthaft, ihm die Zigarettenschachtel oder zumindest eine bissige Bemerkung an den Kopf zu werfen. Aber er hielt sich zurück und steckte die Packung wieder ein.
»Kaugummi?«, fragte Luttmann hilfsbereit.
Doch Hinnrichs winkte ab. »Wann können wir den Rest sehen?«
»Geben Sie mir noch ein paar Minuten«, stöhnte der junge Computerspezialist, indem er blind nach einer Dose Cola griff, die auf dem Boden neben seinem Laptopkoffer stand. Er nahm einen Schluck und behielt die Dose in der Hand, während er einhändig eine Reihe von neuen Befehlen in die Tastatur seines Laptops hämmerte.
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