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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Wahrscheinlichkeit nach aus Winnie Hellers Personalakte. Die Aufnahme zeigte Verhoevens Kollegin mit ernster Miene und knapp ohrläppchenkurzem Bob über einem grob gestrickten dunklen Rollkragenpullover. Sie blickte verschlossen, fast feindselig in die Kamera des unbekannten Fotografen, und Verhoevens erster Gedanke war, dass jemand, der seine Partnerin nicht näher kannte, ihre Haltung unter Garantie missverstehen würde. So ist sie nicht, schoss es ihm durch den Kopf, auch wenn er sich gut daran erinnerte, dass Winnie Heller zu Beginn ihrer Zusammenarbeit oft ähnlich finster dreingeblickt hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er sich in ihrer Gegenwart lange Zeit unwohl und befangen gefühlt, auch wenn ihn seine Tochter mit ihrem unverstellten Kinderblick von Beginn an auf die menschlichen Qualitäten seiner Kollegin hingewiesen hatte – und sei es nur dadurch, dass ihr nichts und niemand über »Winnie mit den roten Haaren« ging, seit die beiden für ein paar flüchtige Minuten in seinem Auto hintereinander gesessen hatten.
    Liebe Winnie , hatte Nina sich erst kürzlich von ihrer Mutter in gestochen scharfen Lettern auf einen großen Notizzettel vorschreiben lassen, leider ist unser See am Rand noch ein bisschen zugefroren, aber bald ist wieder schönes Wetter und dann musst du unbedingt vorbeikommen und dir meine Goldfische ansehen. Die sind schon ganz groß. Und es gibt auch ganz leckeren Zitronentee, wenn du welchen trinken darfst ... (Diese letztere Einschränkung entspringe Ninas Freundschaft zu Dominik Rieß-Semper, der unter den verschiedensten Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten leide, hatte Verhoeven seiner Kollegin erklärt, als er ihr die mit Vögeln und Fischen verzierte Einladungskarte überreicht hatte. Und Winnie Heller hatte genickt und in ihrer üblichen unverblümten Art gesagt: »Ach ja, dieser kleine Fettsack mit der Glutamatallergie, stimmt’s?«)
    Verhoeven sah wieder nach dem Foto seiner Kollegin, und er erschrak, als ihm bewusst wurde, dass er lächelte.
     
     
     

11
     
    Die Entführer stiegen, einer nach dem anderen, die rostige Eisentreppe hinauf, und Winnie Heller versuchte, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Sie wusste, von einer richtigen Einschätzung der Sachlage konnte der gesamte Ausgang dieser Geschichte abhängen.
    Sechs Personen außer ihr selbst.
    Sechs potenzielle Verbündete.
    Sechs potenzielle Schwachstellen.
    Aber wer war wer? Ihr Blick streifte Quentin Jahns asketisches Gesicht. Saßen sie tatsächlich in einem Boot? Konnten sieben wildfremde Menschen, die nichts voneinander wussten, sich allein deshalb aufeinander verlassen, weil sie einen gemeinsamen Gegner hatten?
    Wohl kaum, dachte Winnie. Also war Vorsicht geboten.
    Diesen Typen mit der Brille zum Beispiel, den konnte sie auf den ersten Blick so gar nicht einschätzen. Er hatte bislang kaum gesprochen und sich auch sonst nicht weiter hervorgetan, weder durch unterschwelligen Widerstand noch durch übertriebene Angst. Und auch rein äußerlich wirkte er vollkommen unscheinbar. Trotzdem erinnerte Winnie sich mit einem Mal daran, dass er vor dem Eingang des linken Büros gestanden hatte, als sie die Sparkasse betreten hatte. Und das bedeutete ja wohl zwangsläufig, dass er ihr aufgefallen war. Trotz seiner vermeintlichen Unauffälligkeit. Ihr Blick tastete sich über sein Gesicht, das in dem schummrigen Licht über der Grube durchaus nicht unattraktiv wirkte. Helle Augen, schön geschwungene und für einen Mann erstaunlich volle Lippen, dazu dichtes, graumeliertes Haar. Wie alt mochte er sein? Mitte fünfzig ja wohl mit Sicherheit. Vielleicht auch schon Mitte sechzig.
    Winnie Heller schüttelte unwillig den Kopf, als sie feststellte, wie schwer sie sich bereits mit dieser harmlosen Einschätzung tat. Sie versah den Mann mit einem dicken imaginären Fragezeichen, dann wandte sie sich der brünetten Kassiererin zu, die, wie sie aus dem kurzen Geplänkel in der Bank wusste, Iris Kuhn hieß. Die Frau stand ruhig, fast lässig gegen die gekachelte Wand gelehnt, und ihre Figur verriet deutlich, dass sie Sport trieb. Nicht nur zum Spaß. Ehrgeizig, freiheitsliebend und vermutlich auch ziemlich erfolgreich im Job, konstatierte Winnie Heller. Dazu die trotzige Entschlossenheit, die in den grünen, leicht schräg stehenden Augen lag. Und der Tonfall, mit dem Iris Kuhn ihre junge Kollegin zurechtgewiesen hatte ... Oh nein, dachte sie, diese Frau gehört ganz sicher nicht zu der Sorte, die man

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