Schattenriss
Frühstück zu essen, weil sie es als mittleres von drei Kindern eines chronisch unterbezahlten Fliesenlegers auch zwanzig Jahre nach Verlassen ihres Elternhauses noch immer nicht übers Herz brachte, ein belegtes Brötchen einfach in die Mülltonne zu werfen.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie sah, dass die Ampel vor ihr längst wieder Grün zeigte, und unkonzentriert, wie sie war, ließ sie die Kupplung ein wenig zu schnell kommen. Der Audi machte einen Satz nach vorn, dann erstarben die 354 PS in einem stilvollen Seufzer.
Der Fahrer des dunklen Geländewagens, der ebenfalls nicht besonders aufmerksam gewesen zu sein schien und um Haaresbreite aufgefahren wäre, machte derweil seiner Wut über Ingers Unachtsamkeit hupend und gestikulierend Luft, bevor er mit aggressiv quietschenden Reifen an ihr vorbeizog.
Inger hob den Kopf und starrte seinen Rücklichtern nach, bis sie um die nächste Kurve verschwunden waren.
Erst dann ließ sie den Motor wieder an und fuhr langsam weiter.
14
Winnie Heller hob geblendet die Hand vor die Augen, als sie von einem Moment auf den anderen wieder von einem Lichtstrahl erfasst wurde. Doch auch diese schützende Geste konnte nicht verhindern, dass die Welt um sie herum angesichts der gleißenden Helligkeit erneut in diffuse Schatten zerfiel, während sie selbst sich mitten in einem Kegel aus Licht wiederfand.
»Name«, peitschte eine Stimme vom oberen Rand der Grube zu ihr hinab.
Scheiße, dachte Winnie Heller, und was jetzt? Eine Lüge war in einer Situation wie der ihren schwer durchzuhalten, noch dazu, wo sich die Brieftasche mit ihren Papieren nach wie vor in ihrer Hosentasche befand und die Geiselnehmer eigentlich nur nachzusehen brauchten, was sie so bei sich trug. Andererseits ...
»Name«, wiederholte der Mann mit dem hellen Mantel in drohendem Ton. Dabei leuchtete er ihr direkt ins Gesicht, und angesichts der unüberhörbaren Aggression in seiner Stimme wagte Winnie nicht, noch länger zu zögern.
»Heller«, antwortete sie, wobei sie sich selbst wunderte, wie dünn und verloren ihre Stimme zwischen den kahlen Wänden klang. »Winifred Heller.«
»Winifred?« Er lachte. »Was für’n Scheißname ist das denn?!«
Ich hätte lügen können, hämmerte es hinter Winnies Stirn. Wäre es am Ende nicht vielleicht doch besser gewesen, wenn ich diesen Mistkerl angelogen hätte? Was kann mir erwachsen aus der Wahrheit? Welche Gefahren birgt sie? Welche Möglichkeiten?
»Ich ... Mein Name ist Jenna Gercke«, kiekste die Blondine neben ihr, kaum dass das Licht sie erfasste. »Ich arbeite normalerweise in einer anderen Filiale, aber ...«
»Hab ich dich vielleicht irgendwas gefragt?«, herrschte der Typ im hellen Mantel sie an, und Winnie Heller hörte die tiefe Verachtung, die in seiner Stimme schwang.
Die Blondine schüttelte mit einer Mischung aus Verwirrung und Angst den Kopf.
»Dann halt gefälligst dein Maul, klar?«
Er ließ den Strahl seiner Lampe weiterwandern.
»Was ist mit dir?«
»E ... Evelyn.«
Das war die Dicke.
»Evelyn und weiter?«
»Was?«
»Sag mir deinen gottverdammten Nachnamen, oder ich ...«
»Gorlow«, kreischte die Frau, indem sie wie zum Selbstschutz die runden Beine gegen ihren üppigen Busen zog. »Evelyn Gorlow.«
Warum, zum Teufel, fragt dieser Typ uns, wie wir heißen?, überlegte Winnie Heller, indem sie zum Rand der Grube hinaufsah. Wozu wollen diese Kerle schon zu einem derart frühen Zeitpunkt wissen, wen sie da eigentlich in ihrer Gewalt haben? Hieß es denn nicht, dass Täter wie diese es nach Möglichkeit vermieden, ihre Opfer zu personalisieren, dass sie alles dafür taten, ihnen nicht so etwas wie eine eigene Identität zugestehen zu müssen? Immerhin fiel es im Ernstfall leichter, eine Geisel zu erschießen, die keinen Namen und keinen Hintergrund hatte. Oder ging es darum, zu klären, was man anzubieten hatte? Nein, gab Winnie Heller sich selbst zur Antwort. Wenn diese Männer tatsächlich so etwas wie Erfahrung mitbringen, und davon muss man angesichts der präzisen Vorbereitung dieses Überfalls ja wohl ausgehen, dann wissen sie auch, dass die Unterhändler der Polizei ohnehin selten oder nie über ganz bestimmte Geiseln verhandeln und ihrerseits bewusst jede Personalisierung der Gefangenen vermeiden. Schon, um auf diese Weise den Wert des Faustpfandes herabzusetzen, das die Entführer in der Hand zu haben glauben. Also warum, in drei Teufels Namen, wollen sie wissen, wer wir sind?
Der Strahl der
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