Schattenriss
wohlformulierten Wetterbericht loslassen konnte. In ihrer jetzigen Situation allerdings waren Dinge wie Frühlingsstürme, Nachtfröste und Temperaturstürze mit einem Mal von elementarer Wichtigkeit. Wie würden die Bedingungen aussehen, in den nächsten Stunden, vielleicht gar Tagen? Wie lange konnten sie das hier, falls nötig, durchhalten? Und wann würde der erste von ihnen durchdrehen, weil es nichts zu essen, keine Wärmequelle, keine Toilette gab?
Nur mit äußerster Mühe widerstand Winnie Heller dem Impuls, sich abermals nach der toten Kassiererin umzusehen, deren Körperumrisse unter der billigen Polyesterdecke so schmal wirkten, dass sie am liebsten laut losgeheult hätte. Sie machte sich inzwischen die bittersten Vorwürfe, dass sie nicht doch eingegriffen, nichts gesagt, ja, nicht einmal nennenswert reagiert hatte. Und wider besseres Wissen fühlte sie sich in gewisser Weise sogar mitschuldig an Iris Kuhns Tod.
Es ist doch alles viel zu schnell gegangen , widersprach ihr Verstand. Du konntest unmöglich voraussehen, dass er sie töten würde. Und selbst wenn, hättest du nichts erreicht, außer dich selbst in Gefahr zu bringen . Du musst warten, bis du eine reale Chance hast ...
Winnie Heller sah sich um. Unter ihren Mitgefangenen schien es indessen so etwas wie einen unausgesprochenen Konsens zu geben, Iris Kuhns Tod mit keiner Silbe zu erwähnen. Erschossen, abtransportiert, abgehakt, dachte Winnie, indem sie fröstelnd die Schultern hochzog. So schnell geht das. Sie streckte ihre schmerzenden Beine von sich und starrte die marode Eisentreppe an der gegenüberliegenden Wand an, während ihre Ohren das schummrige Halbdunkel über ihren Köpfen zum wiederholten Mal nach einem Hinweis auf den Verbleib ihrer Entführer absuchten. Doch da war kein Laut. Keine Stimmen. Kein Fernsehen oder Radio, mit dessen Hilfe sich die Geiselnehmer auf dem Laufenden hielten. Nichts als Stille.
Ganz so wie vorhin in der Bank.
Und trotzdem sind sie da, dachte Winnie Heller trotzig. Zumindest zwei von ihnen. Bernd, der Sadist. Und dieser Junge, der sichtlich geschockt auf die Gewalttat seines Komplizen reagiert hatte und den sie in Gedanken nur »den Kleinen« nannte. Wo mochten die beiden stecken? Ruhten sie sich aus? Lauerten sie irgendwo dort oben darauf, dass einer der Gefangenen den Versuch unternahm, die rostigen Stufen hinaufzusteigen? Oder hatten sie sich zurückgezogen, irgendwohin, wo die Geiseln sie nicht hören konnten, und stritten über die Tote, diesen brutalen und absolut sinnlosen Mord? Und was war mit den beiden anderen? Verhandelten sie bereits mit der Polizei über ihre Forderungen? Über unseren Wert, ergänzte eine zynische Stimme in Winnie Hellers Kopf, während sie einmal mehr überlegte, was es mit dem Mann auf sich haben konnte, den die Geiselnehmer ursprünglich in dieser Grube hatten unterbringen wollen. Mit Walther Lieson. Was wäre Plan A gewesen? Und was mochte Lieson getan haben, um das Interesse, um den Zorn dieser Männer auf sich zu ziehen? Oder wusste er am Ende nur irgendetwas, das für die Entführer interessant war? Hatten sie ihn haben wollen, damit er ihnen zu etwas verhalf, an das sie ohne seine Unterstützung nicht oder nur unter erheblich größeren Risiken herankamen? Ging es letzten Endes doch ums Geld, um Profit, um schnöden Mammon, und war Lieson aus irgendeinem Grund so etwas wie ein personifiziertes »Sesam öffne dich«? Winnie Heller kaute auf ihrer Unterlippe, die sich spröde anfühlte. Wer war dieser Mann, der an ihrer Stelle hier hatte untergebracht werden sollen?
Walther Lieson und ich sind befreundet, hörte sie die angenehme Stimme Quentin Jahns flüstern . Wir treffen uns alle zwei Wochen zum Schach. Aber heute Mittag rief er mich an und sagte, dass er wegmüsse ...
Walther Lieson musste weg, wiederholte Winnie Heller, wobei ihr unwillkürlich wieder jenes mysteriöse Wort in den Sinn kam, das Alpha, der Anführer, in der Bank verwendet hatte. Malina. Sie hatte nach reiflicher Überlegung beschlossen, davon auszugehen, dass es sich bei dem so Bezeichneten tatsächlich um eine Person handelte. Um einen real existierenden Menschen. Allerdings war ihr noch immer nicht klar, ob Walther Lieson und Malina ein und dieselbe Person waren. So, wie Alpha die Sache eingeleitet hatte, war das durchaus nicht ausgeschlossen. Andererseits stellte sich in diesem Fall natürlich die Frage, warum der Anführer der Gangster dann nicht sofort nach Lieson gefragt haben sollte.
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