Schattenriss
auf dem ersten Blatt seines Dossiers notierte.
Hinnrichs warf dem Beamten, der sich die Durchsetzung des Nichtraucherschutzes auf die Fahnen geschrieben hatte, einen geradezu provozierend interessierten Blick zu. Na los doch, Jungchen, schienen die stahlblauen Augen hinter der randlosen Brille zu sagen, jetzt zeig gefälligst mal, wie durchsetzungsstark du bist!
»Entschuldigen Sie bitte«, wiederholte der Beamte, der zu spüren schien, dass er auf dem besten Weg war, sein Gesicht zu verlieren, eine ganze Spur energischer als zuvor.
Richard Goldstein blickte hoch. »Ja?«
»Ihre Zigarette ...«
»Was ist damit?«
»Das Rauchen ist in diesem Gebäude leider nur in den dafür vorgesehenen Bereichen gestattet.«
»Na, dann verklagen Sie mich«, entgegnete Goldstein mit einem so charmanten Lächeln, als habe er dem Jungen gerade das Kompliment des Jahrhunderts gemacht.
Vereinzelt wagte jemand ein Lachen.
Der gesundheitsbewusste Beamte lief puterrot an, während Luttmann dem Unterhändler mit völlig neutraler Miene eine seiner leeren Coladosen als Aschenbecher reichte.
»Die Medien haben den Mantel unseres Schützen übrigens bereits aufgegriffen«, meldete der dunkelhaarige Beamte von der hinteren Wand, der zwar mit dem Rücken zum Geschehen saß, jedoch instinktiv zu spüren schien, dass es höchste Zeit war, sich wieder mit harten Fakten zu beschäftigen. »Gleich mehrere Sender und Onlineportale beschreiben die Kleidung des Betreffenden und auch seinen genauen Standort während der Tat. Also können wir wohl davon ausgehen, dass sich jeder, der etwas Hilfreiches zu unserem Mantelträger beobachtet hat, über kurz oder lang bei uns melden wird.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, murrte Goldstein, weit weniger optimistisch. »Mal ganz abgesehen davon, dass so etwas immer jede Menge Fehlinformationen und damit einen Haufen Irrwege bedeutet, haben wir bislang nicht den geringsten Beweis dafür, dass der Mann im hellen Mantel tatsächlich der gesuchte Schütze ist.«
Doch, dachte Verhoeven, ohne zu wissen, warum er sich in
diesem Punkt so sicher war. Er ist es! Ich weiß, dass er es ist.
Er starrte auf die Tischplatte hinunter, während vor seinem
inneren Auge eine Reihe von Bildern heraufdämmerte. Ein heller Mantel.
Eine hübsche Assistentin.
Ein unerwarteter Feuerblitz, in dessen Schatten der Magier das zitternde weiße Kaninchen in seinem Hut gegen eine Taube oder ein buntes Tuch oder was auch immer tauscht.
Ja, dachte Verhoeven, im Grunde ist es genau dasselbe Prinzip. Denkbar einfach, aber auch denkbar wirkungsvoll. Diese Männer, die wir suchen, sind ebenso raffiniert wie kühn.
2
Sie verharrten in einer Art Starre.
Wie lange schon, konnte Winnie Heller nicht sagen.
Sie saß, den Rücken gegen die bröcklige Wand gelehnt, auf dem Boden, und obwohl sie die Ärmel ihrer Fleecejacke bis über die Handgelenke heruntergezogen hatte, kroch ihr die klamme Kälte allmählich in sämtliche Knochen und verstärkte das Gefühl von Lähmung, das sie seit Iris Kuhns Tod empfand. Seit Iris Kuhns Exekution, korrigierte sie sich in Gedanken. Der ersten, die sie hatten miterleben müssen. Wie viele würden noch folgen? Und wer von ihnen würde der Nächste sein?
Da waren’s nur noch sechs ...
Irgendwann zwischendurch war sie aufgestanden und hatte die braune Polyesterdecke an sich genommen. Sie hatte fest damit gerechnet, dass Evelyn Widerspruch einlegen und die Decke mit der gleichen Selbstverständlichkeit verteidigen würde, mit der sie zuvor die Matratze okkupiert hatte. Doch die korpulente Frau hatte sie keines Blickes gewürdigt, und Winnie hatte die Decke unbehelligt über Iris Kuhns Leichnam breiten können. Sie hatte diesen Akt der Humanität für unabdingbar gehalten, auch wenn ihr durchaus bewusst gewesen war, dass sie außer dieser einen Decke nichts hatten, um sich gegebenenfalls wärmen zu können.
Trotzdem hatte sie nicht anders gekonnt.
Und es hatte sie auch niemand gehindert.
Während sie jetzt dasaß und auf etwas wartete, das vielleicht nicht kam, versuchte sie, ihrem Gedächtnis Informationen zu den Wetteraussichten der nächsten Tage zu entlocken. Aber sie wurde nicht fündig. Sie war kein Mensch, der dreimal täglich Nachrichten hörte, und an etwas, auf das man derart wenig Einfluss hatte wie auf die Witterung, war sie im Grunde schon aus Prinzip nicht interessiert, weshalb sie den Fernseher auch meistens ausschaltete, bevor irgendein origineller Meteorologe seinen
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