Schattenriss
damit begannen, die verstreuten Lebensmittel einzusammeln. Und jetzt?, schienen seine intelligenten grauen Augen zu fragen. Übernimmt einer von uns das Kommando oder lassen wir das Recht des Stärkeren walten?
Ein entscheidender Punkt, dachte Winnie, indem sie sich Evelyns selbstverständliche Annexion der Matratze in Erinnerung rief. Noch sitzt der Schock zu tief, aber wenn wir nicht aufpassen, herrscht hier bald die blanke Anarchie, und wir fangen an, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen!
Sie sah sich nach Jenna um, die nach wie vor auf dem Boden kauerte, und überlegte, ob die Zeit tatsächlich für oder vielleicht doch eher gegen sie spielte.
»Teilt euch das Zeug gut ein, mehr gibt’s nämlich nicht«, verkündete unterdessen Bernd vom Rand der Grube. Er hatte den hellen Mantel ausgezogen und trug jetzt irgendetwas Dunkles, das Winnie aufgrund des starken Gegenlichts nicht näher erkennen konnte. »Wenn ihr pissen müsst, benutzt ihr den Eimer. Und ansonsten bleibt ihr genau da, wo ihr jetzt seid, verstanden?!«
Er wartete nicht auf eine Reaktion der Gefangenen, sondern verschwand einfach hinter dem düsteren Horizont ihrer beschränkten Welt.
Wenig später ertönte ein lautes Knacken, und die Lampen am Grubenrand verlöschten. Zurück blieb das altbekannte Halb dunkel, das über den Rand der Grube zu den sechs Geiseln hinunterschwappte und in dem eine undefinierbare Bedrohung zu liegen schien.
7
»Und?«
Verhoeven schüttelte den Kopf, wütend darüber, dass er den erwartungsvollen Gesichtern seiner Kollegen vom KK 11 nichts als blanke Ratlosigkeit entgegenzusetzen hatte. Zu dritt standen sie auf dem Gang vor der Einsatzzentrale, jeder mit einem Becher Automatenkaffee in der Hand, den Werneuchen spendiert hatte.
»Habt ihr noch immer keinen Kontakt zu den Entführern?« »Nein, nichts bislang.«
Oskar Bredeneys Finger schlossen sich fester um den Plastikbecher in seiner Hand. Er trug denselben schwarzen Glattledermantel, den er schon bei Verhoevens Dienstantritt im Morddezernat angehabt hatte und in dem er wie ein alter Nazi aussah. Beinahe jeder im KK 11 hasste diesen Mantel, der noch dazu quietschte und stank, doch Bredeney war trotz unzähliger Überredungsversuche seitens seiner Kollegen einfach nicht dazu zu bewegen, sich davon zu trennen. Inzwischen konnte man angeblich bereits Wetten darauf abschließen, ob Grovius’ alter Weggefährte das gute Stück auch am Tag seiner Verabschiedung tragen oder zu diesem besonderen Anlass vielleicht doch standesgemäß im dunklen Anzug oder gar in Uniform erscheinen würde, wobei gut informierte Quellen behaupteten, die Quoten stünden derzeit zwölf zu eins zugunsten des Mantels.
»Wenigstens haben die Kollegen von der Streife endlich ihren Wagen aufgespürt«, beeilte sich Verhoeven die wenig erbaulichen Informationen weiterzugeben, die er vor wenigen Minuten erhalten hatte. Er sah Stefan Werneuchen an, den vierten Beamten aus Hinnrichs’ Team, und dachte, dass die beiden Kollegen vom KK 11 eigentlich schon seit Stunden dienstfrei hatten. Wir sind ein Team, dachte er verwundert. Auch nach Dienstschluss sind wir ein Team. »Leider war ihre Brieftasche nicht dort.«
»Gottverdammter Mist«, entfuhr es dem sonst eher zurückhaltenden Werneuchen. »Dann hat sie ihren Dienstausweis also tatsächlich bei sich.«
»Winnie ist ein kluges Mädchen, das sich immer und überall zu helfen weiß«, entgegnete Bredeney mit reichlich gezwungen wirkender Zuversicht. »Und selbst wenn diese Kerle inzwischen mitgekriegt haben, dass sie an eine Kriminalbeamtin geraten sind, ist doch noch lange nicht gesagt, dass sie ...« Als ihm bewusst wurde, was ihm da gerade auf der Zunge lag, brach er ab und starrte auf das graue Linoleum zu seinen Füßen hinunter.
»Nein«, kam Verhoeven dem alten Weggefährten seines verstorbenen Mentors zu Hilfe. »Das ist nicht gesagt.«
Bredeney nickte, ohne aufzublicken. »Und sonst?«, fragte er. »Läuft Goldstein immer noch mit dieser dämlichen Mütze durch die Gegend?«
Verhoeven warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. »Woher weißt du davon?«
»Hab vor Jahren mal mit dem Kerl zu tun gehabt«, entgegnete Bredeney, und es klang, als rede er von einem anderen Leben. »Das Ding ist so was wie Goldsteins Markenzeichen. Er hat es bei jedem seiner Einsätze auf.« Sein Ledermantel quietschte, als er vielsagend mit den Schultern zuckte. »Angeblich bringt es ihm Glück.«
Und das können wir in diesem Fall
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