Schattenriss
der sich von dem ruppigen Ton jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ. Verhoeven bemerkte, dass Luttmanns Augen kurz am Foto seiner kleinen Tochter hängen blieben, bevor seine Finger wieder über die Tasten glitten.
Goldsteins mächtige Kiefer mahlten, während er wie gebannt auf die Wand starrte, wo die körnigen Aufnahmen im Zeitlupentempo rückwärts liefen. »Noch langsamer«, rief er. »Okay. Stopp hier! ... Ja, das ist es.«
Er trat ein paar Schritte näher an die Wand heran, und dieses Mal schien er zufrieden mit dem, was er sah, auch wenn Verhoeven sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, worauf der Unterhändler hinauswollte. Die Einstellung, die wie festgefroren an der Wand zitterte, zeigte nicht mehr als die drei verwaisten Schalter und den Rücken der am Boden liegenden Krankenschwester.
»Sehen Sie diese Reflexion hier?«, fragte Goldstein, als habe er Verhoevens Gedanken gelesen. »Dort drüben auf dem Glas.« Er machte noch einen Schritt auf die Wand zu und markierte die Stelle mit seinem bloßen Zeigefinger. Dann wandte er sich wieder an Luttmann, der mit konzentrierter Miene auf seinen Monitor starrte. Wie weit kriegst du das vergrößert, bevor es in einen unübersichtlichen Pixelhaufen zerfällt?«
Der Kriminaltechniker zuckte seine jungenhaften Schultern und hämmerte eine Reihe von Befehlen in seinen Rechner, während Goldstein sich wieder nach der Wand umdrehte. Auf seinem Hinterkopf zuckte das graublaue Licht der Aufnahmen, aus denen Luttmann immer präzisere Ausschnitte wählte.
Vor ihrer aller Augen wurde auf diese Weise ein Kopf erkennbar. Ein Mann mit Skimaske. Er stand so, dass sich sein Gesicht frontal in der Scheibe des linken Schalters spiegelte.
»Was soll das bringen?«, fragte Büttner, dem die Sache offenbar zu lang wurde. »So vermummt, wie der Kerl ist, hilft uns das nicht viel weiter, oder?«
»Geduld, mien Jung«, flüsterte Goldstein und offenbarte damit zum ersten Mal auch verbal seine norddeutsche Herkunft. »Geduld.«
»Der Mann sagt irgendwas«, flüsterte Verhoeven.
»Und jetzt sieht er sich um«, ergänzte Hinnrichs.
»Vielleicht, weil er eine Antwort erwartet«, schlug Monika Zierau vor.
»Da!«, rief Hinnrichs. »Noch mal!«
Goldstein nickte. »Geht das noch präziser?«
Auf Luttmanns Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm und er tastete nach seiner Coladose, während er dem Programm einhändig weitere Befehle erteilte.
Das maskierte Gesicht des Geiselnehmers schmolz auf einen Mund zusammen, der ein paar grotesk anmutende Bewegungen vollführte, bevor er sich wieder schloss. Dann öffneten sich die Lippen unter dem schwarzen Stoff aufs Neue.
»Besorgen Sie jemanden, der von den Lippen lesen kann«, rief Goldstein, während auf der Wand hinter ihm die isolierte Sequenz der Mundbewegungen immer wieder von vorn begann.
Eine uniformierte Beamtin sprang auf und verließ den Raum.
In der entgegengesetzten Ecke der Einsatzzentrale griff einer ihrer Kollegen zum Telefon.
»Was sagst du?«, murmelte Goldstein, die klarblauen Adleraugen starr auf die Wand gerichtet. »Für was für eine Frage hast du dir derart viel Zeit genommen?«
»Richard?«, rief im selben Augenblick Monika Zierau, die bei dem dunkelhaarigen Beamten an der hinteren Wand stand. »Ja?«
»Wir haben die letzte verbliebene Geisel identifiziert.« »Lass hören.«
»Laut Kontodaten handelt es sich um Jussuf Mousa, sechsundvierzig Jahre alt. Gebürtig in Marokko, genauer gesagt in Figuig, einer Oase an der Grenze zu Algerien.« Verhoeven suchte in den Kohleaugen der Psychologin nach einem Ausdruck von Zufriedenheit darüber, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig gelegen hatte. Doch Monika Zieraus Gesicht wirkte genauso unbeteiligt wie immer. »Mousa kam mit Anfang zwanzig nach Deutschland und hat zuerst eine Weile in Frankfurt gelebt, bevor er mit seiner Familie nach Wiesbaden gezogen ist«, fuhr sie fort. »Inzwischen wohnt er schon seit elf Jahren im Westend.«
»Der Mann ist verheiratet und hat drei Söhne im Alter von sieben bis sechzehn Jahren«, ergänzte der dunkelhaarige Beamte an der hinteren Wand.
Wie schnell das geht, dachte Verhoeven wie schon zuvor. Ein paar harmlose Mouseklicks, und dein Leben ist ein offenes Buch für jeden, der sich dafür interessiert.
»Sind Mousas Angehörige schon informiert?«, erkundigte sich Goldstein, ohne seinen Blick von der Wand zu nehmen.
Monika Zierau bejahte. »Zwei Beamte sind bei ihnen. Sie achten zugleich darauf, dass nichts
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