Schattenriss
Winnie Heller in die Knie und schob das lose Geröll mit den Händen zur Seite, um sich die Vertiefung, in die sie getreten war, genauer anzusehen. Dabei entdeckte sie unter den Splittern zerborstener Kacheln ein rostiges Metallgitter, das einmal mit vier Schrauben im Boden verankert gewesen war, inzwischen allerdings nur noch lose über dem Loch lag, das es einst verschlossen hatte. Ein Abfluss, dachte Winnie, na sieh doch mal einer an! Aber eigentlich nicht unlogisch, wenn das hier irgendwann mal ein Wasserbecken gewesen war. Doch wozu mochte dieses verdammte Becken gedient haben? Und was lag oberhalb dieser vier einstmals gekachelten Wände, die ihren Horizont begrenzten?
Da sie die Fragen, die sie am meisten interessierten, erwartungsgemäß nicht beantworten konnte, schob Winnie Heller kurzerhand die Finger in den Rost und zog das Gitter weg. Das darunter liegende Loch war rund und maß etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter im Durchmesser. Winnie ließ sich vollends auf die Knie sinken, krempelte den Ärmel ihrer Fleecejacke hoch und steckte beherzt den Arm in den Abfluss. Die Wände des Lochs waren rau und schienen mit jedem Zentimeter, den sie sich abwärts tastete, feuchter zu werden. Nach etwa vierzig Zentimetern stießen ihre Finger auf einen bröckligen Untergrund, der, wie sie rasch herausfand, die Form einer halbierten Röhre hatte. Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor und erkundete die Konturen des rinnenartigen Gebildes, das offenbar gleich in zwei Richtungen weiterführte.
Nach kurzem Überlegen entschied Winnie Heller sich für rechts und hielt erschrocken die Luft an, als ihre Hand unvermittelt etwas Weiches streifte.
Was zur Hölle war das denn? Doch wohl hoffentlich kein Tierkadaver, oder?
Sie verzog angewidert das Gesicht und nahm die Hand ein Stück zurück, doch letztendlich siegte ihre Neugier über ihren Ekel. Mit einem verächtlichen Blick auf die Spinnweben am Rand des Abflusses schob sie den Arm wieder tiefer, wobei sie links von der Stelle, die sie zuvor erkundet hatte, etwas wie einen steinernen Vorsprung ertastete. Kurz danach mündete die Rinne in eine Art Rohr, das irgendwo im Nichts verschwand.
Winnie Heller zog den Arm zurück und klopfte sich Staub und Spinnweben von der Jacke. Auf was für merkwürdige Ideen einen eine Situation wie diese doch bringen konnte! Da diskutierte ein paar Meter über ihren Köpfen eine Bande von schwer bewaffneten Geiselnehmern womöglich gerade darüber, welcher der Gefangenen als Nächstes sterben würde, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als mit Feuereifer ein winziges Loch im Boden zu untersuchen! Winnie Heller schüttelte halb amüsiert, halb fassungslos den Kopf. Als ob ihnen die Erkenntnis, dass dieses Monstrum von einer Grube einen Abfluss hatte, irgendwie weiterhalf! Aber wer weiß, widersprach sie sich mit einem letzten, ironischen Blick auf das rostige Gitter selbst, wenn wir weiterhin so wenig zu essen bekommen, konsequent an unserer Gelenkigkeit arbeiten und die ganze Sache sich lange genug hinzieht, könnte uns das verdammte Ding vielleicht eines Tages als Fluchtweg dienen!
Sie erhob sich ächzend aus ihrer knienden Position und schob das Gitter wieder notdürftig über das Loch.
Dann kehrte sie an ihren Platz zurück.
Unter ihren Mitgefangenen hatten sich unterdessen erste vorsichtige Gespräche entsponnen. Jenna erzählte weitschweifig von ihrer Arbeit, die sie – wie sie abermals ausdrücklich betonte, als erhoffe sie sich eine Art Absolution von dieser Tatsache – üblicherweise in einer anderen Filiale tue. Und Evelyn sprach in stockendem Ton von einem Kater namens Mike, ohne dass Winnie Heller herausfinden konnte, ob es sich dabei um ein Haustier oder schlicht um das unverfänglichste Thema handelte, das der korpulenten Bankkundin unter den gegebenen Umständen in den Sinn gekommen war. Rechts neben ihr hatte sich der unscheinbare Anzugträger niedergelassen, und Winnie fiel auf, dass sie noch nicht einmal seinen Namen wusste, weil Iris Kuhns Bitte um etwas zu trinken Brutalo-Bernds perverse Vorstellungsrunde unterbrochen hatte, bevor die Reihe an ihn gekommen war.
Zum dunkelgrauen Anzug trug der Mann schwere silberne Manschettenknöpfe und eine beige Seidenkrawatte mit haarfeinen gelben Streifen, was ihre Vermutung untermauerte, dass auch er ein Angestellter war. Ein Banker. Alles in allem schien sich der Mann recht gut im Griff zu haben, auch wenn die Blässe rund um seinen Mund eine andere Sprache
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