Schattenriss
sprach. Während er Evelyns Katergeschichte lauschte, blickte er zum Rand der Grube hinauf, und von Zeit zu Zeit warf er eine Bemerkung ein, die wohl freundlich und interessiert, vielleicht auch beruhigend sein sollte. Doch Evelyn schien die wohlmeinenden Konversationsversuche ihres Sitznachbarn kaum zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Miene war vollkommen leer, so als habe sie alle Emotionen einfach ausgeknipst.
Während Winnie Heller überlegte, was ihre Kollegen wohl gerade anstellen mochten, um etwas über ihren Verbleib herauszufinden, fiel ihr Blick wieder auf die Wasserflasche, die ihr zugeteilt worden war. Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns etwas zu trinken zu geben? Die vorsichtige, beinahe übertrieben höfliche Bitte der toten Kassiererin geisterte nach wie vor durch ihr Unterbewusstsein, und sie konnte einfach nicht aufhören, sich zu fragen, ob Iris Kuhn noch am Leben wäre, wenn sie sich eingemischt hätte. Sie oder einer der anderen.
Schließlich hätte Brutalo-Bernd uns kaum alle erschießen können, dachte sie bitter. Aber anstatt die couragierte Kassiererin zu unterstützen, hatten sie geschwiegen. Alle, wie sie hier saßen.
Fünf Personen außer ihr selbst.
Fünf potenzielle Verbündete.
Fünf potenzielle Schwachstellen.
Oh nein, dachte Winnie Heller, wir sitzen nicht in einem Boot. Letzten Endes sind wir alle auf uns allein gestellt. Und irgendwann, das wusste sie genau, würde es auf dem Grund dieser Grube nur noch ums nackte Überleben gehen ...
9
»Nun gut«, sagte Goldstein, indem er seinem Gesprächspartner einen Becher mit Kaffee hinschob. »Was wollen diese Leute von Ihnen?«
»Von mir?« Walther Lieson war ein dunkler Typ und wirkte deutlich jünger als einundsechzig Jahre. Die Strapazen der überhasteten Rückreise hatten keine Spuren in seinem ebenmäßigen Gesicht hinterlassen, wenn man von dem leichten Schweißglanz einmal absah, der sich unter dem hohen Haaransatz abzeichnete. »Wieso von mir?«
»Keine Ahnung«, antwortete Goldstein.
Er hatte Monika Zierau und Hinnrichs zum Privathaus des Filialleiters geschickt, wo sie bereits von einem Team von Kommunikationsspezialisten erwartet wurden. Sie sollten die Stellung halten und sich um Inger Lieson kümmern, während Goldstein selbst beschlossen hatte, zunächst deren Ehemann zu befragen. Eine Polizeieskorte hatte den erfolgreichen Banker irgendwo zwischen Karlsruhe und Mannheim aus dem Zug geholt und geradewegs ins Nordhessische Polizeipräsidium gebracht, wo zwei von Jüssens Leuten Walther Lieson in ein Verhörzimmer geführt und um einen Augenblick Geduld gebeten hatten. Das Unverständnis über diese – seiner Meinung nach nicht nur drakonischen, sondern auch durch nichts zu rechtfertigenden – Maßnahmen stand Lieson auch jetzt noch ins Gesicht geschrieben, selbst wenn er sich alle Mühe gab, es hinter einer Maske aus Interesse und wohldosierter Betroffenheit zu verbergen.
»Aber irgendwas müssen diese Männer von Ihnen wollen«, startete Goldstein unterdessen einen neuen Versuch. »Immerhin haben sie Ihre Privatnummer gewählt, um mit uns in Kontakt zu treten.«
»Das kann ich mir in keiner Weise erklären.«
Die Ratlosigkeit des Bankers schien echt zu sein, aber Verhoeven hatte schon zu viel erlebt, als dass er wirklich sicher gewesen wäre. Er war überrascht, dass Goldstein ausgerechnet ihn zu dieser Befragung hinzugebeten hatte. Überrascht, aber auch froh, einbezogen zu sein.
»Vielleicht sind sie auf mich verfallen, weil sie es nicht gewagt haben, sich direkt an die Polizei zu wenden.« Lieson überlegte einen Augenblick. »Ich meine, es ist doch allgemein bekannt, dass hier jeder Anruf aufgezeichnet wird ... Und mit irgendwem mussten sie ja schließlich in Kontakt treten, nicht wahr?« Er blickte Goldstein an, doch der erfahrene Unterhändler hütete sich, die rhetorische Frage des Bankers zu kommentieren. »Außerdem ist es nicht schwer herauszufinden, wer für die betreffende Filiale zuständig ist«, fuhr Lieson fort. »Dazu braucht man eigentlich nur unseren Internet-Auftritt zu konsultieren. Und meine Privatnummer steht im Telefonbuch.«
»Inger ist Ihre zweite Frau, nicht wahr?«
Lieson runzelte die Stirn. »Ja, aber was hat das damit ...«
Goldstein winkte ab. »Wir versuchen nur, uns ein Bild zu machen«, sagte er. »Haben Sie sich in letzter Zeit irgendwie beobachtet gefühlt?«
»Was?«
Verhoeven bemerkte die blanke Entrüstung im Blick des Bankers. Es wunderte ihn, dass Walther
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